Hilfe – holt mich hier raus. Innerlich rufe ich sämtliche Teile meines meines Ohres zum Appell zusammen: Trommelfell, Paukenhöhle, Gehörknöchelchen, Schnecke – seid ihr noch da? Neben mir sitzt Andrea, meine Frau. Sie hat den Kopf eingezogen, ihre beiden Zeigefinger stecken in ihren Ohren fest.
Über uns fegt ein infernalischer Lärm hinweg. Tausende kreischen, buhen und pfeifen, was Lunge und Finger hergeben – bloß, weil Eden Hazard nur in die Nähe des Balles gekommen ist. Im nächsten Moment schon schlägt die Tonlage um und die Menge peitscht Hakim Ziyech nach vorne, der rechts vorne den Weg durch zwei Gegenspieler hindurch sucht.
Es ist wie ein Start des Airbus 380, bei dem obendrauf noch AC/DC aus der Pilotenkabine den Weg zur Hölle weist.
Mit anderen Worten: Die Stimmung hier im Al-Thumama-Stadion beim Spiel von Marokko gegen Belgien ist großartig.

OK – ein wenig einseitig vielleicht. Von den knapp 44.000 Zuschauern sind geschätzt 35.000 für Marokko. Wo sind all die Leute geblieben, die wir beim Hineingehen mit belgischen Trikots gesehen haben? Vielleicht haben sie klammheimlich die Seite gewechselt. Groß auffallen würde das nicht – bei beiden Trikots dominiert die Farbe Rot.
Auf jeden Fall sind nicht nur die belgischen Fans beeindruckt, auch ihre „goldene Generation“ ist auf dem Platz total gehemmt. Marokkos Star Hakim Ziyech wird später zum „player of the match“ gekürt. Eden Hazard, vor einigen Jahren noch in einem Atemzug mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi genannt, nimmt sein Trainer mangels Wirksamkeit vorzeitig vom Feld.
Abdelhamid Sabiri gelingt in der 73. Minute das Schlitzohr-Freistoß-Tor zum 1:0 für die „Löwen vom Atlas“. Das Stadion rastet völlig aus. Als Zakaria Abdoukhlal in der Nachspielzeit mit dem 2:0 den Deckel draufmacht, gibt es kein Halten mehr. Kurz habe ich Angst, dass die Fans um uns herum über die Brüstung nach unten springen.
„Maghreb, Maghreb“ hallt es durch das Stadion – und „team marroquin, team marroquin“. Zumindest wenn ich das richtig verstehe.

Auf der Ehrentribüne applaudiert Katars Emir Sheikh Tamim bin Hamad al-Thani.
Seine Rechnung geht auf – ob man es nun gut findet oder nicht: Mit diesem Turnier spielen sich die Araber auf der Fußball-Weltkarte fest – nicht nur durch die Milliarden des Scheichs, auch sportlich. Mit Marokko hat zum zweiten Mal ein Team aus der arabischen Sphäre die Sensation geschafft und einen der Favoriten geschlagen, auch wenn es im Fall von Belgien nur der ewige Geheimfavorit ist.
Den Weg bereitet für eine unglaubliche Euphorie und eine Fußball-Solidarität von Riad bis Casablanca haben aber die „grünen Falken“ aus Saudi-Arabien mit ihrem Sieg gegen Argentinien.
Kurzer Einschub: Nein – ich habe nicht vergessen, wo ich bin. Ich habe nicht vergessen, was meine Werte sind und dass ich in einer Diktatur zu Gast bin. Natürlich bin ich mir bewusst, was das Nachbarland Saudi-Arabien mit den Milliarden und Aber-Milliarden aus dem Ölgeschäft im Jemen und anderswo treibt.
Aber das hindert mich nicht, neugierig auf die Menschen zu sein, die dort leben. Und sehen zu wollen, wie sie den Fußball und ihr Team feiern.

In Doha geht das nirgendwo besser als im „Saudi House“. Katar hat nur eine Landgrenze – mit Saudi-Arabien. Viele Saudis sind zur WM angereist. Ihre Regierung hat mit dem Saudi House eine eigene Fan-Botschaft eingerichtet. Direkt am Hochhaus-Viertel „West Bay“ in Strandlage präsentieren sich hier die Regionen des Landes, das in Zukunft mehr Touristen anziehen möchte. Im Zentrum des Saudi House steht natürlich ein großer Bildschirm für Public Viewing, die Anlage hat eine Kapazität für mehrere Tausend Fans.

Hier treffe ich mit Meshal und Jaber ein. Die beiden haben mich im Bus aufgegabelt, sie sind aus Dschiddah eingeflogen, der saudischen Millionenstadt am Roten Meer. Ehe ich mich versehen kann, bin ich mit Wasser und Cola versorgt und trage einen Schal. Erst später realisiere ich, dass es die Flagge des Landes ist. Eine Anfrage bei Google ergibt, dass sie grün ist (habe ich gemerkt) und das islamische Glaubensbekenntnis enthält: „Es gibt nur einen Gott und Mohammed sein Prophet.“ Darunter ein Schwert. Oha – so schnell gerät man in etwas hinein, was einem später nicht gefällt.
Meshal und Jaber sind allerdings ganz und gar friedlich. Besonders Jaber kümmert sich um mich. Er outet sich als glühender Fan von Bayern München und trägt einen Rucksack in den Deutschen Nationalfarben. In der Pause lotst er mich zu einem Essensstand: Alle Besucher sind am diesem Tag von Saudi-Arabien zum Essen eingeladen. Ja – auch Deutsche und Araber, die einen Deutschland-Rucksack tragen. Ich lasse mir die Chicken Sticks mit Pommes schmecken. Bin ich jetzt gekauft?
Jaber gibt mir jedenfalls zu verstehen, dass meine Idee, mich für Cola und Wasser zu revanchieren, keine gute ist: „Du bist hier der Gast!“ wehrt er entschieden ab.

Das Public Viewing ist ein ganz besonderes Erlebnis: Vorher gibt´s saudische Folklore – und dann einen arabischen Kommentator, von dem ich zwar fast nichts verstehe, der mir aber trotzdem in Erinnerung bleibt. Während Béla Réthy und Co. auch mal eine Pause machen, redet der Reporter hier in einem durch. Seine Emotionen würde er nie bremsen und beinahe in jeder Minute wird Gott bemüht. Findige Journalisten haben nachgezählt, dass der Kommentator nach dem 2:1-Siegtreffer gegen Argentinien nicht weniger als sechsmal Allah gepriesen hat, bevor er seine Lobeshymne auf den Siegtorschützen anstimmte.
Indessen kann die saudische Mannschaft die Überraschung des Argentinien-Spiels gegen Polen nicht wiederholen. An der körperlichen Robustheit von Robert Lewandowski und seinen Mannschaftskollegen prallen die Falken regelrecht ab – und besonders clever stellen sie sich auch nicht an: Sie gehen zu Beginn der Partie so hohes Tempo, dass sie schon nach 30 Minuten ausgepumpt wirken.
Die Halbzeitansprache von Trainer Hervé Renard hilft diesmal nicht (die aus der Partie gegen Argentinien unbedingt auf Youtube anschauen – sinngemäße Kurzfassung: „Willst Du mit Messi ein Foto machen oder ihn verteidigen?“). Trotzdem stemmen sich Renards Spieler bis zum Schluss gegen die Niederlage. Nach dem 0:2 durch einen katastrophalen Abwehrfehler verlassen zwar einige Zuschauer das Saudi House, der ganz überwiegende Teil bleibt aber und applaudiert dem Team nach dem Schlusspfiff.
Während des Spiels komme ich mit einem Syrer ins Gespräch. Er ist Fitness-Coach und lebt jetzt in LA, hat aber auch schon in Deutschland gearbeitet – erst vor Kurzem war er in Kempten. Stolz zeigt er mir ein Selfie von sich mit einem vollen Maßkrug auf dem Oktoberfest, beeilt sich aber zu beteuern: „Getrunken habe ich nichts.“ Ob´s stimmt oder nicht, ist mir egal. Mir kommt nur in den Sinn, dass die einzigen drei Angetrunkenen, die ich hier in Doha bisher gesehen habe, drei junge Saudis waren. Einer von ihnen hat bei voller Dröhnung auf dem Fanfest mit dem Kopf auf meinem Rucksack gepennt.

Nach dem Ende der Partie schlendere ich noch über das Gelände des Saudi House und unterhalte mich kurz mit Big Moe. Er ist ein Graffiti- und Kalligraphie-Künstler aus Riad und malt an einem riesigen Bild von Yasser Al-Sharani. Der linke Verteidiger war beim Sieg über Argentinien mit dem eigenen Torwart zusammengeprallt und hat mehrere Knochenbrüche und innere Blutungen erlitten. „Er ist bei uns ein Held“, sagt Big Moe.
Aus der Heimat erreicht uns eine whatsapp-Nachricht meines Schwiegervaters:
„Jeder Spieler von Saudi-Arabien, der beim Sieg gegen Argentinien dabei war, bekommt vom König einen Rolls Royce. Ein saudischer Verein bietet Cristiano Ronaldo eine Drei-Jahresvertrag für 216 Millionen Euro. Lieber Gott – warum hast Du auf der Schwäbischen Alb oder im Schwarzwald keine Öl- und Gasfelder angelegt???“
Andrea antwortet: „Da musst Du wohl Allah fragen.“
Und ich denke mir: Bohrtürme auf dem Schauinsland? Dann doch lieber Windräder. Aber Ronaldo beim FC Albstadt – das hätte was …
Lieber Christian, es ist eine wahre Freude dass Du uns auch in Katar weiter teilhaben lässt an Deiner Reise! Die Zeilen in denen die grenzüberschreitenden Emotionen und Leidenschaft für den Fußball aufflammen – so ganz ohne politischen oder moralischen Vorbehalte – lesen sich für mich tatsächlich am schönsten! Ich freue mich sehr, dass es Dir gut geht und natürlich dass Du Teil unserer Kicktipp-Gemeinschaft bist 😉
Herzliche Grüße nach Katar, ChristianH
P.S.: Ganz ehrlich, was würde ich geben bei nur einem Spiel live dabei zu sein? – es lebe der Fußball 😎
Lieber Christian, danke für die Rückmeldung. Es wird Zeit, dass wir mal zusammen ins Stadion gehen! Gruß Christian
Nach München damals einfach nochmal ein Versuch wagen, sehr gerne!