Ich habe eine Weile gezögert, ob ich meinen Blog überhaupt fortsetzen soll. Die Stimmung in Deutschland zur Fußball-Weltmeisterschaft ist ja völlig vergiftet. Ich weiß nicht, wie in dieser Situation mein persönlicher Eindruck aus Doha ankommt. Denn neben Negativem und Merkwürdigem erlebe ich hier natürlich auch viel Positives.
Ich versuche es einfach mal – dieser Text ist allerdings schon mehr als eine Woche alt …:
Ende Juli bin ich mit dem Fahrrad aufgebrochen, um von Ravensburg nach Katar zur Fußball-Weltmeisterschaft zu fahren. Ich bin in drei Monaten bis Armenien gekommen, dort war aufgrund der Unruhen im Iran leider Endstation. Schade – Iran stand auf meiner Liste ganz oben. Nicht nur wegen seiner Jahrtausende alten persischen Kultur, sondern vor allem, weil die Iraner im Ruf stehen, eines der gastfreundlichsten Völker der Welt zu sein.
Aber ich schweife ab: Jetzt fliege ich zur WM – in ein Land, das bei uns massiv in der Kritik steht. Zu Recht: Missachtung der Rechte von Homosexuellen, Ausbeutung von Arbeitern, Korruption, Greenwashing – das sind nur einige der Themen, die seit Wochen und Monaten bei uns die Berichterstattung über die kommende Weltmeisterschaft dominieren. Vielen Menschen hat das die Freude an der WM genommen. Ich kann das durchaus verstehen.
Bei mir ist der Glaube an die Kraft des Fußballs und die Freude an den Spielen aber einfach zu groß – und meine Neugier. Ich war zuletzt bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich und bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Beide Male habe ich erlebt was Fußball kann: Menschen aus der ganzen Welt zum Feiern zusammenbringen und das Gastland im positiven Sinne in einen Ausnahmezustand versetzen.
Solche Erlebnisse kann mir auch keiner nehmen – nicht mal die FIFA mit ihren Entscheidungen.
Ich habe das Glück, dass meine Frau eine Freundin in Katar hat. Sie hat uns eingeladen, während der WM bei ihr zu wohnen.
Ich bin gespannt auf Katar: auf die Menschen, die ich dort treffen werde, und auch auf das Land selbst.
Und ich bin gespannt auf das Abschneiden unserer Mannschaft. Mal sehen, ob die Jungs den Kopf freibekommen und ein gutes Turnier spielen. Ich wünsche es Ihnen – auch mit Blick auf „unsere“ EM in zwei Jahren.

Meine WM beginnt in Istanbul
An einem grauen Novembertag steige ich in Stuttgart ins Flugzeug. Hier in Deutschland ist nichts davon zu spüren, dass das größte Sportereignis der Welt beginnt.
Die Stimmung ist klar gegen dieses Turnier. Sie ist so schlecht, dass es in den Auslagen der Geschäfte keine Trikots und Fanartikel gibt und Wirte beteuern, dass sie in ihrem Gasthaus auf keinen Fall Fußball zeigen werden. Viele Menschen sagen sogar, dass sie sich kein einziges Spiel anschauen wollen.
Ich für mich habe entschieden, dass ich das sehr wohl kann – sogar im Stadion. Ich habe Tickets für die beiden Vorrundenspiele der deutschen Mannschaft gegen Japan und Costa Rica sowie für zwei weitere Vorrundenpartien.
Trotzdem sitze ich mit gemischten Gefühlen im Flieger Richtung Zwischenstopp Istanbul. Erst am Gate zum Weiterflug nach Doha bin ich zum ersten Mal wirklich sicher, dass meine Entscheidung die richtige ist. Der Grund ist Rodrigo, ganz in Grün gewandet unschwer als Mexikaner zu erkennen. Rodrigo stülpt mir kurzerhand einen Sombrero über und nimmt mich in die Arme. Mein Spanisch ist im Laufe der letzten Jahre ziemlich verschütt gegangen – aber so viel verstehe ich doch in unserer kurzen Unterhaltung: „Armer Deutscher, wo sind Deine Emotionen? Es ist Fußball.“
Und als sein Kumpel – dessen Tenor beinahe Opern-Niveau hat – die kürzlich in seinem Land auf Tiktok viral gegangenene Fan-Version des Hits „No se va“ anstimmt und die ganze Gruppe mitgrölt, checke ich innerlich ein.
Ich lese später nach: Sie singen davon, dass sie momentan keine großen Stars wie andere Teams haben, ihre große Namen wie Carlos Vela oder Chicharito fehlen. Aber dass sie trotzdem an den Titel glauben und dass die Hoffnung „no se va“ – niemals vergeht: „Wir haben nicht Ronaldo und auch nicht Neymar, aber wir wollen diesen Titel und niemand wird uns das nehmen.“
Ein paar Kraftausdrücke und Provokationen gegenüber Vorrundengegner Argentinien dürfen auch nicht fehlen. Natürlich fühlen sich die Gauchos nebendran sofort genötigt, ihre eigenen Songs anzustimmen und ihr Loblied auf Messi zum Besten zu geben. Wenig später folgt aber die lautstarke Fußball-Verbrüderung: „America Latina, America Latina“ gegen den Rest der Welt.
Und ich weiß: Hier bin ich richtig.

Das erste Spiel: Nippon takes it all
1:0 für Nippon – in der Gunst vieler neutraler Zuschauer hier in Katar lagen die Japaner schon vor Anpfiff der Partie gegen Deutschland in Führung. Der Grund: Ihre Tradition, im Stadium nach dem Spiel sauberzumachen. Nach dem Eröffnungsspiel ging auf Tiktok ein Video von @omr94 viral, in dem er sich bei den Japanern bedankte, die Müll in großen Säcken sammelten. Tausende kommentierten begeistert. Der katarische Unternehmer Mohammed Hassan Al Jefairi twitterte: „Sie machen das Stadion sauber, obwohl es nicht ihr Match, nicht ihr Land und nicht mal ihr Müll ist.“
Und wie ist es um unser Image bestellt? Was ich festgestellt habe: Man kommt hier unglaublich schnell ins Gespräch. Die Leute sind sehr freundlich und heißen einen willkommen – egal ob es Zuschauer, die überall gegenwärtige Security oder das Personal im Hotel sind. Wenn ich dann sage, dass ich aus Deutschland bin, steigt die Anerkennung sogar noch, gerade bei den Einwanderern. Die Tunesierin Marwa, die in einem Restaurant im Service arbeitet, wünscht sich ganz direkt: „Ich habe zwei Diplome in Biologie – könnt Ihr mich nach Deutschland bringen?“

Unsere Fußballstars kennen dank weltweiter Vermarktung von Campions League, Premier League, La Liga und auch der Bundesliga sowieso alle: Als im Stadion die Spieler vorgestellt werden, bekommen Manuel Neuer und Thomas Müller mit Abstand den meisten Applaus. Sie sind hier das Gesicht unseres Teams – wer in den Stadtteil Westbay fährt, wird von einem Neuer in Hochhaus-Größe begrüßt.

So ist im Khalifa-Stadion, wo die Partie zwischen Deutschland und Japan stattfindet, Schwarz-Rot-Gold gefühlt sogar vorne. In meinem Block haben gleich mehrere Einwanderer-Familien komplett – von Papi bis zum kleinen Töchterlein – den Adler auf der Brust.
Davon, dass unsere Spieler beim Mannschaftsfoto aus Protest gegen die FIFA die Hand vor den Mund halten, bekommen sie nichts mit. Überhaupt ist die Diskussion um Katar als Austragungsort der WM offenbar auf einen Teil der Welt beschränkt. Mexikaner, Argentinier oder Brasilianer zucken mit den Schultern, wenn ich sie frage, ob das bei ihnen ein Thema ist. Auch ich erfahre von der Aktion unserer Mannschaft erst aus den deutschen Medien. Dort lese ich auch, dass unsere Innenministerin Nancy Faeser auf der Tribüne die One-Love-Binde trägt.
Wie das hier ankommt? Ganz ehrlich: Ich kann es nicht sagen. Es ist meiner Frau und mir bisher nicht gelungen, mit Kataris direkt ins Gespräch zu kommen. Sie sind ein kaum greifbares Mysterium, aber das wird ein anderer Text.
Was greifbar ist: Die Kritik hat die ganze arabische Welt ein Stück weit zusammengeschweißt. Der Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien ließ die Stimmung förmlich explodieren. Beim Autokorso fuhren zahlreiche Autos mit, aus deren Fenstern die katarische und die saudi-arabische Flagge geschwenkt wurden. Bis vor kurzer Zeit undenkbar: 2017 hat Saudi-Arabien zusammen mit anderen Ländern noch ein Embargo gegen Katar verhängt, erst seit Januar 2021 ist die Grenze zwischen Katar und Saudi-Arabien wieder offen.

Im Spiel läuft zunächst alles nach Plan für die deutsche Mannschaft. Aus einer enormen Ballbesitz-Übermacht macht das Team in Halbzeit eins allerdings nur ein Elfmeter-Tor. Ansonsten haben die Jungs – angeführt vom in der Liga noch so treffsicheren Bayern-Block aus Kimmich, Gnabry, Musialla und Müller – den Kopf nicht frei und verballern neben dem Elfmeter 25 Torschüsse. Dadurch wird unsere bekannte Abwehrschwäche tatsächlich zu einem Problem – außer Rüdiger und Neuer wackeln wir hinten mehr und mehr.
In der zweiten Halbzeit dreht sich mit immer mutigeren Japanern auch endgültig die Stimmung. Ausgerechnet Ritsu Doan, der einen großen Anteil am momentanen Erfolg des SC Freiburg hat, macht den Ausgleich. Und als Japan den Siegtreffer erzielt, jubelt ein Großteil des Stadions mit dem Underdog. Direkt neben mir feiern vier Jungs aus dem Libanon mit.
Klar, dass die Japaner nach diesem epochalen Sieg draußen feiern – und drinnen wieder aufräumen. Diesmal sind auch Al Jazeera und viele andere Fernsehsender dabei.
Und Mohammed Hassan Al Jefairi twittert nach dem Spiel über einem Hand-vorm-Mund-Bild unseres Teams: „Which team is this?“


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