Ich bin nach Russland zum zweiten Mal bei einer Fußball-Weltmeisterschaft – und zum zweiten Mal spielt die deutsche Nationalmannschaft die schlechteste WM aller Zeiten. Wenn es da keinen Zusammenhang gibt … Bevor der DFB sich mit einer ernsthaften Analyse abmüht: Ich stelle mich hiermit als Sündenbock zur Verfügung.

Kleiner Fortschritt: Immerhin habe ich diesmal Spiele von Neuer und Co. gesehen. Für „die Mannschaft“ hatte ich in Russland bloß Optionstickets. Wenn die Jungs damals die Vorrunde überstanden hätten, dann wäre ich bei Achtel- und Viertelfinale dabei gewesen. Ja wenn …
Aber obwohl ich in Russland kein einziges Fußballspiel gesehen habe, war die Reise nach Moskau und Kasan unvergesslich. Das wird bei der aktuellen Reise nicht anders sein. Auch wenn erneut 16 Teams – unter anderem ein paar Känguruhs – an uns vorbei ins Achtelfinale gehoppelt sind.

Ich hatte drei Stunden vor Spielbeginn noch ein Ticket für das denkwürdige 1:0 der „Aussies“ gegen Dänemark bekommen. „They have the better players, but we played with heart“, sprach dieser Herr dem Reporter nach dem Schlusspfiff euphorisiert ins Mikrofon. Da ist was Wahres dran: Die Dänen wirkten ähnlich unmotiviert wie die deutsche Mannschaft nach der 1:0-Führung im Spiel gegen Costa Rica. Da hatte ich nach den starken Anfangsminuten richtig Hoffnung geschöpft, dass unser Team doch noch in die WM hineinfindet. Dann rumpelten sich die Jungs auf rätselhafte Weise in ein 1:2 und am Ende trotz Leistungssteigerung aus dem Turnier.

So war es aus deutscher Sicht wieder eine WM der Enttäuschungen – und der Missverständnisse. Auch im Kleinen übrigens: Der Fanclub Nationalmannschaft skandierte tapfer sein „Steht auf, wenn Ihr für Deutschland seid“. Es waren zwar auch gegen Costa Rica wieder Tausende Menschen in unseren Trikots im Stadion. Bloß: Der Inder hier versteht halt in der Regel kein Deutsch. Und so blieben all die Weiß-Schwarz-Gewandeten sitzen und schauten bloß ratlos, als wir uns von unseren Sitzen erhoben.
Mein Eindruck: Die Mannschaften – nicht bloß die deutsche – vergeben hier so richtig eine Chance. Wenn Joshua Kimmich nur einmal bei einer Pressekonferenz gesagt hätte „Vielen Dank an all die Menschen aus Nepal, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und Indien, die unsere Trikots tragen“, hätte er auf einen Schlag Hunderttausende neue Fans gefunden. Von außen sieht es so aus, dass die WM in Katar eine WM der Araber ist – und natürlich stimmt das auch. Aber in den Stadion sind die Menschen aus Südasien klar in der Überzahl – es ist auch ihre WM.
Sie stehen hier in Katar für den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung. Alleine die Inder stellen rund 700.000 der knapp 3 Millionen Einwohner – Kataris gibt es bloß 300.000. Ganz ähnlich ist die Situation zum Beispiel in Dubai: 40 Prozent der Bevölkerung kommt aus Indien, die Emiratis haben im eigenen Land gerade einmal einen Anteil von knapp 12 Prozent.
Irgendwie verrückt: In Indien ist Cricket Nationalsport, Fußball kennen die Inder – ich lasse jetzt mal die anderen Länder der Einfachheit halber weg – nur aus dem Fernsehen. Die Nationalmannschaft steht im FIFA-Ranking auf Rang 106. Insider kennen die Story um die einzige Qualifikation des indischen Teams für eine WM-Endrunde: 1950 war Indien eigentlich dabei, sagte aber die Teilnahme ab. Der Grund: Die FIFA hatte kurz vor dem Turnier die Pflicht zum Tragen von Fußballschuhen eingeführt, in Indien spielte man aber noch barfuß.
Die Inder hier in Katar sind dennoch geradezu verrückt nach der WM. Nibil (rechts) und Rasniya (daneben) sind mit ihrer sechs Monate alten Tochter Eva alle zwei Tage bei einem Spiel oder beim Public Viewing. Ich habe die drei und ihre Freundin Nizy gleich bei meinem ersten Besuch auf dem Fanfestival kennengelernt – wir halten Kontakt und treffen uns immer wieder.

Besonders stolz ist Nibil darauf, dass er Karten für das Finale ergattert hat – für mich angesichts schon aufgrund der regulären Kartenpreise ab rund 550 Euro keine Option. Nibil hat eine Beratungsfirma, die Unternehmen dabei begleitet, ihr Business in Katar zu starten. Aber auch die Inder, die hier in Katar beispielsweise auf dem Bau arbeiten, sind am Start: Möglich macht das eine 4. Preiskategorie für Einwohner von Katar – Vorrundenspiele kosteten für sie zum Beispiel nur 10 Euro. Im Bus zum Spiel der Australier gegen Dänemark bin ich kurz mit Deepak aus dem südindischen Bundesstaat Kerala ins Gespräch gekommen. „Mein Arbeitgeber gibt mir frei, wenn ich ein Ticket für ein Spiel habe“, berichtet er. Natürlich frage ich ihn irgendwann auch nach seinen Arbeitsbedingungen. „Vor ungefähr drei Jahren hat sich für uns einiges gebessert, wir haben jetzt viele neue Freiheiten“, sagt Deepak – und schränkt aber auch gleich ein: „Wir hoffen jetzt, dass der Emir die Verbesserungen nicht nach der WM wieder zurücknimmt.“
Es ist nicht so, dass die meisten meiner neuen indischen Freunde den Kicker lesen oder sonst irgendwie Fans vom Fach wären. „Offside – why offside?“ Ich habe hier schon mehrfach den alten Klassiker Abseitsregel erklärt. Und ich muss gelegentlich feststellen, dass die Halbzeitshow und das Feuerwerk so manchen Zuschauer eher vom Handy wegreißen als wirklich wichtige Fragen wie „falsche oder echte Neun?“ oder „Vierer- oder Dreierkette?“. Ein gefundenes Fressen für die Fußballpuristen bei uns und ihre These „Dort gibt es keine Fußballtradition, deshalb gehört die WM da nicht hin“.
Ich bin da aber anderer Meinung: Fußball ist für alle da, auch die WM. Gerade die WM hier hat unglaubliches Potenzial, noch mehr Menschen für dieses Spiel zu begeistern. Wie sagt doch meine Gastgeberin hier in Doha – selbst in England aufgewachsene und in den USA studierte Inderin: „Wir `Braunen´ sind viel mehr als Ihr weißen Europäer.“
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