Eigentlich sind Mind, Minnie und Red ganz friedlich, aber …
Einmal tief Luft holen. Dann muss es schnell gehen.
Erst per Fernsteuerung das Licht im Hundezwinger anmachen und jetzt die Kellertüre auf.
Das Adrenalin schießt mir in den Körper, als das Inferno beginnt.
Sobald mich die Hunde sehen, drehen sie durch. Eigentlich sind Dino, Guinni, Ettan, Indrah, LT, Odin, Star, Red, Mind und Minnie durchaus freundlich und gut erzogen. Aber wenn es ums Fressen geht, brennt ihnen die Sicherung durch. Jeden Tag zweimal.
Links bellen Mind und Minnie, was ihre Kehle hergibt. Ganz hinten fangen LT und Odin rasend fast zu kämpfen an. Selbst der Ettan, vor dem Schlitten sonst ein kluger und ruhiger Leithund, verliert völlig die Fassung.
Sie wollen Blut sehen!
Zum Glück nicht meines. Dabei bin ich doch wirklich auch ein ganz guter Happen. Mit Ü50 vielleicht schon etwas abgehangen, aber doch wohl genährt.
Die Alaskan Malamutes lassen mich auch nicht aus den Augen. Und sie sind durchaus imposante Erscheinungen. Aber sie haben es nur auf die Schüsseln abgesehen, die ich in den Händen trage. Darin: rohes Fleisch, schön blutig und noch halb tiefgefroren.
Nein – für Zartbesaitete ist der Job hier nichts. Vor zwei Tagen kam ein LKW und hat eine Palette Hundefutter ausgespuckt. Über eine halbe Tonne tiefgefrorenes Fleisch, das Kris und ich in zwei Stunden mit Beil und Vorschlaghammer so bearbeitet haben, dass die Stücke in die Tiefkühltruhe passen.
Auch heute Abend bekommen wieder alle Hunde ihre Mahlzeit. Möglichst weit voneinander entfernt, damit kein Streit ausbricht. Selbst die unscheinbare Star versucht sonst, dem doppelt so großen Odin seinen Happen zu klauen.
Einen Kampf habe ich bisher miterlebt. Als Kris, der schon mehrere Wochen auf dem Hof ist, mir beim Fressen Ausgeben noch etwas erklären wollte, wurde es Minnie und Red zu bunt: Die dominante Mutter und ihr Sohn gingen aufeinander los – Kris musste sofort mit roher Gewalt dazwischen. Trotzdem war später Reds Nase blutig und Minnie lahmte.
Malamutes sind dafür bekannt, dass es auch mal zu einer Auseinandersetzung kommen kann. Auch wenn gerade die Jungs so knuffig aussehen wie große Kuscheltiere. Meine Gastgeberin Irene ist sehr umsichtig: Ihre Hunde leben zwar miteinander, aber zu zweit bzw. zu dritt in vier Käfigen.
Red ist eine imposante Erscheinung.
Ich weiß noch nicht viel über diese Tiere. Schon ihre Verdauung ist mir ein Rätsel. Odin und Co. schlingen Stücke, die so groß sind wie mein halber Unterarm, einfach herunter. OK – manchmal geht auch was schief: Dino hat einen Teil seines halben Ochsen vor zwei Tagen auf den Küchenboden gekotzt. Aber dann immerhin auch wieder fein säuberlich aufgeschleckt. Irene, die jeden Tag zwei oder drei ihrer Hunde im Haus übernachten lässt, hat es ungerührt geschehen lassen und dann einfach den Boden gewischt.
Diesmal geht alles gut. Und rasend schnell. Ich bin ja durchaus als Schnellesser bekannt. Aber gegen diese Hunde kann ich einpacken. Von einem knappen Kilo Fleisch ist nach Sekunden nichts mehr da. Und die Schüssel blinkt – fein säuberlich ausgeschleckt – wie neu.
Wie verwandelt sind auch die lieben Hundilein. LT, der mir in seiner Gier eben noch mit einem wilden Sprung fast die gefüllte Schüssel aus der Hand gekickt hat, schmiegt sich an mich wie ein Schmusekätzchen. „Guten Abend allerseits“, fassbendere ich vor mich hin und verlasse erleichtert das Terrain.
Ich bin an diesem Abend alleine auf dem kleinen Hof in Gäddede, einem Dorf nahe der norwegischen Grenze nicht mehr weit vom Polarkreis entfernt. Irene bringt Kris auf den gut 200 Kilometer entfernten Flughafen in Östersund. Dort macht sie gleich auch einen Großeinkauf und geht mit Guinni zum Tierarzt.
Irene hatte eine Vorahnung. Ich durfte deshalb heute Mittag auf der Terrasse schon mal eine Freifläche mit Schneemauern ausheben – als Spielzone.
Und richtig! Um 18 Uhr kommt die WhatsApp-Nachricht: „Wir bekommen Puppies.“ Guinni wird Mutter.
Eigentlich wollte ich meinen Blog nach der Radfahrt beenden. Nun habe ich aber doch beschlossen, auch meine Erlebnisse vom nächsten Trip aufzuschreiben. Für einen Monat bin ich als freiwilliger Helfer im schwedischen Nirgendwo bei Irene, die zehn Schlittenhunde hat. Viel Spaß also bei Episode 1:
Fump!
Schlapp, schlapp, schlapp, schlapp …
Verwundert stelle ich durch das Seitenfenster fest: Da macht sich doch gerade unser rechter Vorderreifen auf und davon.
Da kreischt es auch schon gewaltig, als unser Fahrer Pettar den Wagen abfängt und auf der Felge zum Stehen bringt.
Die Karkasse läuft derweil gemütlich aus und legt sich am Straßenrand nieder.
Klingt irgendwie gefährlich. Ist es auf einer verschneiten Landstraße in Mittelschweden wohl auch. Aber bis auf Pettar müssen wir alle herzlich lachen. Wir: Mit mir sitzen noch zwei ältere Damen im Auto. Zusammen hatten wir in den zwei Stunden ein kleines, skurriles Abenteuer erlebt, dass in dem Reifenplatzer gipfelte.
Köttbullar im ZugbistroMein Bett im Zug von Stockholm nach ÖstersundIn Östersund vor dem Nachtzug
Alles begann so: Nach rund 34 Stunden im Zug – über Nacht nach Hamburg, dann tags nach Stockholm und von dort eine weitere Nachtfahrt – kam ich doch ziemlich ramponiert in Östersund an. Die Stadt hat kaum mehr Einwohner (50.000) als meine Heimatstadt Ravensburg, aber hier wohnt fast die Hälfte der Bevölkerung der Provinz Jämtlands län – und die ist größer als Baden-Württemberg.
In Östersund musste ich sieben Stunden auf den Bus warten, der mich weiter in den Norden bringen sollte. Viel Zeit also für Kaffee, leckere schwedische Zimtschnecken und ein paar letzte Besorgungen vor der Fahrt ins Off.
Aufgemerkt: Plane nicht, in Schweden eine Sim-Karte zu kaufen – ohne schwedische ID-Nummer wirst Du keine bekommen. Auf diese Weise sollen Kriminelle von Prepaid-Karten ferngehalten werden.
Jedenfalls stand ich an diesem Tag pünktlich um 13.28 Uhr im Bushäuschen am Bahnhof von Östersund. Mit mir drei ältere Damen. Der Bus hatte auch kaum Verspätung. Aber der Fahrer hielt bloß für zwei Sekunden an und gab dann unvermittelt wieder Gas. Wir waren einen Moment völlig verdutzt, dann sprang ich wild gestikulierend und schreiend hinterher. Allein – der Bus verschwand um die nächste Kurve und ward nicht mehr gesehen.
Das war der Moment, in dem Elisabeth Persson-Grip der Kamm schwoll. Ich hatte noch gar nicht richtig realisiert, was passiert war, da hing sie schon am Handy und machte einen Mitarbeiter der Lanstrafiken von Jämtland rund. Besser gesagt: Nicht nur den, sondern als ihr alles nicht schnell genug ging, gleich noch nacheinander zwei Leute der Busgesellschaft, die für Lanstrafiken fährt.
Später sollte sich herausstellen, dass Elisabeth früher Abgeordnete im Riksdagen, dem schwedischen Parlament, gewesen war. Jetzt ist sie 80 Jahre alt, aber den verbalen Nahkampf hat sie immer noch drauf.
Eine Weile ging es hin und her. Aber schließlich landeten wir im Auto von Pettar – nur noch zu dritt, denn eine der wartenden Damen hatte sich schon leise schimpfend davongemacht, um auf anderem Weg an ihr Ziel zu kommen.
Auch Pettar ist ein Mitarbeiter der Busgesellschaft und hatte den Auftrag, nach Strömsund zu brausen. Dort sollte der Anschlussbus warten, der mich an mein finales Ziel bringen würde. Die Strecke fährt nur ein Bus pro Tag …
Pettar hatte erst einmal organisieren müssen, dass jemand anderes seine Kinder von der Schule abholt. Dann hatte er sich in das Auto geschwungen, das ihm seine Firma für den Trip zur Verfügung gestellt hatte.
Auf der Fahrt berichtete er von Version, die der Busfahrer berichtet hatte: Weil wir alle vier nicht zu seiner Tür, sondern weiter hinten zur Gepäckklappe gelaufen waren, um unsere Koffer zu verstauen, hatte er geglaubt, dass wir in einen Bus hinter ihm wollten. Dass da kein Bus war – wurscht.
Wir hatten es trotz Reifenschaden lustig. Im Vordergrund die resolute Elisabeth Persson-Grip.
Nun begutachtete Pettar ziemlich ratlos den Schaden an seinem VW Caddy. Ein Reserverad fand er nicht – geschweige denn einen Wagenheber, ein Warndreieck, Warnwesten oder auch nur irgendein Werkzeug. `Muss an meinem perfekten Bild von Schweden arbeiten´, musste ich unwillkürlich in mich hineingrinsen.
Die Lösung: Ein Taxi muss her, das mich die letzten 25 Kilometer nach Strömsund bringt. Zum Glück hatte der einzige Taxifahrer der einen Kilometer entfernten Ortschaft Hammerdal auch Zeit. Er brachte zunächst die schimpfende Elisabeth nachhause, die andere Dame hatte sich schon kopfschüttelnd von einer Freundin abholen lassen.
Der Bus in Strömsund wartete bereits über eine Stunde. `Da hast Du jetzt eine Menge Leute, die sich so richtig auf dich freuen´, dachte ich. Andrea, meine Frau, witzelte von daheim über whatsapp: „Ah – der Deutsche.“
Meine bereits vorformulierte Ansprache übers Busmikrofon kann ich aber bei anderer Gelegenheit verwenden. Die Schulkinder, die den Bus zum Heimweg nutzen wollten, hatten sich nämlich längst von ihren Eltern abholen lassen. Der neben mir letzte verbliebene Fahrgast drückte sich tief in seinen Sitz und murmelte „Don´t worry“ auf meine Entschuldigung. Kurz hinter Strömsund stieg er aus.
Und Lasse, der Busfahrer, war ziemlich entspannt. „Frag ihn, ob er Dich direkt an meinem Haus herauslässt“, hatte Irene, meine Gastgeberin für die kommenden vier Wochen, per whatsapp vorgeschlagen. „Er kennt mich.“
So ging´s dann – allein im riesigen Reisebus – hinein in die letzten 133 Kilometer zu meinem Ziel, der 400-Seelen-Siedlung Gäddede. Draußen ein tief verschneites schwedisches Winteridyll und ein wunderschöner Sonnenuntergang.
Es war bereits tief dunkel, als Lasse mitten im Nichts anhielt und mit dem Finger auf ein schwach erleuchtetes Haus deutete: „Dein Ziel – viele Grüße.“ Aus der Nacht tauchte eine Gestalt mit einer Stirnlampe auf: Kris aus Schottland, wie ich ein „Workawayer“ bei Irene.
Zehn Tage werden wir sie gemeinsam bei der aufwändigen Arbeit mit ihren zehn Alaskan Malamutes unterstützen – dann muss ich bis Ende Februar ohne Kris´ Schlittenhunde-Erfahrung auskommen, während Irene tagsüber arbeiten geht.
Ich habe meine Spende übergeben. Insgesamt sind 2.000 Euro zusammengekommen. Mit dem Geld möchte ich wie angekündigt Freizeitangebote für Menschen mit Behinderung der St. Elisabeth-Stiftung (mein Arbeitgeber) unterstützen. Eine Idee ist, dass die Stiftung mit dem Geld eine Busfahrt zu einem Fußballspiel anbieten kann.
Karl-Alexander Kleinheinz und Paul Moll von der Wohngemeinschaft Simon im Jordanbad haben den symbolischen Scheck zusammen mit Anna Weber, der Leiterin Fundraising und Fördermanagement der St. Elisabeth-Stiftung, bekommen. Vielleicht klappt´s ja mit einer Fahrt zum VfB.
Ich möchte mich bei allen bedanken, die meine Spendenaktion unterstützt haben. Ganz besonders beim Emir von Pfuhl.
Viele, viele Menschen haben mir alles Gute für die Reise gewünscht – und ich habe auch eine Menge positiver Rückmeldungen zu diesem Blog erhalten. Vielen Dank auch dafür!
Seit dem 22. Dezember bin ich wieder zuhause. Von 27 Grad und Dauersonnenschein mitten hinein ins schaurig schöne Schmuddelwetter-Weihnachtsfeeling in Deutschland.
Als ich in Doha abgeflogen bin, war die Party der Argentinier in vollem Gange. Und das war erst der Anfang, wie wir ja mittlerweile wissen. „Hier sind alle ganz verrückt!!!!“ hatte unsere Austauschschülerin Vicky noch aus Buenos Aires berichtet. Ihr Bruder war einer der fünf Millionen Menschen, die in Argentiniens Hauptstadt auf den Beinen gewesen sein sollen, um die Mannschaft zu feiern. Messi und Co. mussten dort vom Open-Air-Bus in Hubschrauber umsteigen, weil irgendwann nichts mehr ging und Fans sogar versuchten, von Brücken auf den Bus zu springen.
Das ist wirklich verrückt. Aber neidisch bin ich trotzdem. Fußball kann so viel bewegen: „Unser“ Weltmeistertitel 1990 nach dem Mauerfall, die EM 1996, die WM 2014 – ich habe miterlebt, wie es ist, gemeinsam mit Tausenden Menschen Titel zu feiern. Und ich erinnere mich mit Freude daran, welche Energie das Sommermärchen 2006 bei uns freigesetzt hat.
Davon sind wir eineinhalb Jahre vor der Europameisterschaft im eigenen Land Lichtjahre entfernt. Ich bin mit der Hoffnung nach Katar geflogen, dass das deutsche Team mit einer guten Leistung die Basis dafür legt, bei der EM wieder ganz vorne anzugreifen.
Dafür hätte die Mannschaft, die nicht mehr „die Mannschaft“ heißt aber als Mannschaft zusammenwachsen sollte, allerdings die volle Rückendeckung gebraucht. Zuhause und vor Ort. Ich hatte Lust dazu – und saß daher am 23. November zum ersten Mal in meinem Leben in vollem Ornat (deutsches Trikot am Körper und Schwarz-Rot-Gold auf dem Kopf) beim Spiel gegen Japan im Al-Thumama-Stadion. Aber ich war ziemlich allein.
Eva – mein einziger Fan. Sie mochte meinen Bart.
In Deutschland tobte seit Monaten auf allen Kanälen die Debatte um das Turnier in Katar. Es ging um die FIFA, die Menschenrechte, die Ansetzung im Winter, Doha als Ausrichtungsort und vieles mehr. Die Konsequenz: Viele Menschen gingen innerlich ins Fußball-Exil. Nur wenige deutsche Fans machten sich auf den Weg nach Doha.
Und unsere Kicker wurden in eine Rolle gedrängt, für die sie ganz offenbar nicht geschaffen sind. Gefestigtere Mannschaften wie Frankreich oder England konnten sich von der Diskussion freimachen. Die deutsche nicht.
Im Stadion bekamen wir erst nach und nach über die sozialen Medien mit, dass unsere Innenministerin mit der One-Love-Binde auf der Ehrentribüne saß und die Spieler sich beim Mannschaftsfoto die Hand vor den Mund hielten. Und erst viel später erfuhren wir davon, dass der Großteil des Teams wohl intern zu dieser Geste gedrängt werden musste.
Was wir sahen, war eine Mannschaft, die aus einer Unmenge Torchancen nur einen Elfmetertreffer machte und später nicht in der Lage war, mit einem Gegentreffer umzugehen. Noch viel eindrücklicher war für mich aber das dritte Spiel: Gnabry und die anderen spielten Costa Rica zehn Minuten lang an die Wand – einen kurzen Moment dachte ich, dass sich das Team jetzt mit einer großartigen Leistung am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Stattdessen stellten die Jungs nach dem 1:0 das Spielen ein.
Die Mannschaft schied in der schwächsten Gruppe aus (aus jeder anderen Gruppe erreichte mindestens ein Team wenigstens das Viertelfinale). Die Führungsspieler sind in der Krise – siehe Kimmich und Müller. Und der DFB ist einmal mehr unter Attacke. Autsch.
Irgendwie kopflos: Die deutschen Spieler in der Krise.
Die Menschen, mit denen wir in Doha ins Gespräch gekommen sind, wirkten allesamt irritiert. Deutschland sportlich so schwach – das ist in der internationalen Fußball-Welt einfach ungewohnt.
Ich muss hier wieder einmal auf die Südasiaten zu sprechen kommen, die den größten Teil der Bevölkerung von Katar stellen: Für mich war es völlig neu, wie viele Fans die deutsche Mannschaft außerhalb von Deutschland hat. Aber klar: Weil ihre eigenen Teams unter ferner Liefen rangieren, suchen sich die Menschen bei Weltmeisterschaften andere Mannschaften zum Anfeuern. Ich habe gelernt, dass in Bangladesch zum Beispiel Deutschland die Nummer drei in der Beliebtheit hinter Argentinien und Brasilien ist.
Bestenfalls irritiert waren die Menschen auch über die Hand-vor-dem-Mund-Geste vor dem Japan-Spiel, über die One-Love-Binde und die Attacken gegen Katar insgesamt. Viele haben das alles als klaren Affront wahrgenommen. Dinge zu erklären, war angesichts von Sprachbarriere und völlig unterschiedlichem Hintergrund fast immer aussichtslos.
Wo eine tiefergehende Diskussion möglich war, sind wir stets bei dem Vorwurf der Doppelmoral hängengeblieben. Ganz konkret: Die Deutschen betteln geradezu um Gas aus Katar, die Kataris sollen deutsche Autos kaufen, deutsche Vereine kommen ins Wintertrainingslager nach Doha – da sind Menschenrechte offenbar nicht relevant. Warum soll Katar dann keine Fußball-WM ausrichten dürfen? Ich wusste hier nicht wirklich eine Antwort.
Keine Frage: Wenn die Kosten für die WM tatsächlich auch nur annähernd die kolportierten 200 Milliarden betragen haben, ist das eine gigantische Verschwendung – auch wenn man die Kosten für sinnvolle Investitionen wie zum Beispiel die Metro abzieht. Wir konnten vor Ort sehen, wo das Geld verbuddelt ist: Dass jetzt zum Beispiel acht Fußballstadien in Doha stehen, ist natürlich Wahnsinn. In einer Demokratie wäre so etwas wohl undenkbar. Die Diktatur macht´s möglich.
Aber ob Verschwendung als Kriterium bei der Vergabe einer WM taugt? Dann müsste sich die FIFA sowieso als erstes selbst abschaffen. Wer mal vor dem FIFA Headquarter in Zürich stand, weiß, was ich meine. And the winner is … FIFA. Auch nach diesem Turnier besteht keine Gefahr, dass sich Gianni und Konsorten ihre Stammkneipe Baur au Lac (Doppelzimmer ab knapp 1.000 Euro) nicht mehr leisten können.
Im FIFA-Fanshop auf dem Fanfestival war der Umsatz jeden Tag enorm.
Die Diktatur macht auch vollklimatisierte Fußballstadien möglich. Für die WM war das allerdings komplett überflüssig. Durch die Verlegung in den Winter war das Wetter optimal: Praktisch nie über 30, selten unter 20 Grad – perfektes Fußballwetter, ich war fast immer im T-Shirt unterwegs. Apropos: Für mich taugt das Winter-Argument gegen die WM in Katar nicht. Die Argentinier haben ein Riesenspaß daran, ihren Titel in ihrem Sommer zu feiern. Warum sollte das uns auf der Nordhalbkugel vorbehalten sein? Und angesichts des Klimawandels stellt sich sowieso die Frage, wann wir selbst die WM in den Winter verlegen müssen.
Wo wir beim Klimawandel sind: Ich habe niemanden getroffen, der an die Mär von der klimaneutralen WM in Katar glaubt. Es wird aber wohl einzigartig bleiben, dass die Wege so kurz sind und fast alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar war. Auf dem Fanfestival habe ich Mateusz, einen polnischen Studenten getroffen. Sein Projekt: Selfies vor allen WM-Stadien an einem Tag. „Locker geschafft, mit der Metro kein Problem“, meinte er. Und es gab tatsächlich Fans, die zwei Spiele an einem Tag gesehen haben.
Apropos Fans: Der Sieg der Saudi-Arabier gegen Argentinien markierte den Beginn einer großen Euphorie in der arabischen Fußballwelt, die Marokko bis ins Halbfinale getragen hat. Ich hatte das Vergnügen, den Sieg der Marokkaner gegen Belgien im Stadion zu sehen. Spielerisch und akustisch ein Erlebnis, das mir in Erinnerung bleiben wird.
Achtung: Die Araber kommen!
In Erinnerung bleiben wird mir auch „Metro – this way“. Freundliche Menschen haben uns mit diesen Worten Tag für Tag den Weg zur nächsten Metro-Station gewiesen. Viele von ihnen waren Männer aus Schwarzafrika. Ich weiß, klingt wie ein billiges Klischee: Aber sie haben Musik und Tanz im Blut. Bloß „Metro – this way“ ins Megafon sagen und mit einer überdimensionalen Plastikhand in die richtige Richtung weisen, war ihnen schnell zu langweilig. Wir haben viele lustige Interpretationen gehört – bis hin zu selbst getexteten Raps und kompletten Tanzchoreografien. Der „Metroman“ war schon nach wenigen Tagen in den sozialen Medien eine Berühmtheit.
Das ist aber nichts gegen das, was die argentinische Mannschaft erwartet. Für die Spieler gibt´s zwar keinen Rolls Royce wie für die Sieger-Besieger aus Saudi-Arabien, dafür aber ewigen Ruhm. Messi steht schon auf einer Stufe mit dem Heiligen Diego. Und wie die Saudis nach ihrem historischen Sieg haben auch die Argentinier nach dem WM-Titel ihren Feiertag bekommen.
Wie das anders gehen könnte, versteht sowieso niemand. Dr. Shiban Khan, in Bangladesch geborene und in der Schweiz studierte Professorin in Doha, lebte 2014 in Deutschland. Sie schüttelt immer noch ungläubig den Kopf über die merkwürdigen Deutschen: „Ihr werdet den Weltmeister – und am nächsten Tag geht ihr arbeiten. Wie ist das möglich?“
+++ Weil ich diesen Beitrag in Hektik geschrieben hatte, gibt´s hier eine am Finaltag geschriebene und am 22,12 online gestellte, verbesserte und erweiterte Version. +++
Ich komme gerade vom Finale schauen. Das Amphitheater in Porto Arabia war leider schon zwei Stunden vor Anpfiff proppenvoll, wir haben nebenan gerade noch einen Tisch bei einem Italiener bekommen.
Was es über das Spiel zu sagen gibt? Einfach grandios. Wer den Boykott daheim bis jetzt durchgehalten und lieber Bobfahren geschaut oder mit der Familie Memory gespielt hat: alle Achtung – aber Pech gehabt! Für mich war dieses Duell der Giganten zwischen Messi und Mbappé eines der besten Endspiele, die ich je gesehen habe.
„Deux Cappuccinos et deux croissants s’il vous plaît“ – am Morgen des Finales waren wir noch zum Frühstück bei „Paul“. Das ist ein In-Franzose hier in „The Pearl“, wo unsere Gastgeberin ihr Appartement hat. Wir waren da aus Solidarität mit den wenigen, die die Tricolore in Doha hochhalten.
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Geholfen hat´s bekanntlich nichts. Die Muchachos aus Argentinien sind hier auch ganz klar in der Überzahl. Alleine Samstag und Sonntag sollen Gerüchten zufolge noch einmal 40.000 eingeflogen sein. Viele ohne Tickets. Pech für uns: Die ganze Nacht vor dem Finale war wieder Party im Hilton bei uns gegenüber. Und im Souk gab´s kaum mehr ein Durchkommen. Wenn es nach Anzahl und Lautstärke der Fans ginge, hätte Frankreich ein Debakel erlebt.
Im Souk Waqif im Herzen Dohas hatte ich aber auch ein ganz anderes Erlebnis:
„You here for FIFA?“ Mittlerweile weiß ich: Das ist keine Frage, ob ich einer von Giannis Schergen bin. Die Frage bedeutet schlicht: Bist Du hier, um die Fußball-Weltmeisterschaft anzuschauen? Sie folgt in der Regel direkt auf „where are you from?“
Diesmal bekomme ich die Frage von Kris gestellt. Kris ist gerade so groß wie ich – wenn ich sitze. Sie steckt voller Energie und arbeitet in einem Restaurant, das zu einem günstigen Preis Falafel anbietet. Als sie mir und Andrea die wunderbaren Bällchen aus Kichererbsen mit Brot, Hummus und Gemüse auf den Tisch stellt, kommt sie kurz mit uns ins Gespräch.
Sie zeigt uns Fotos von ihren beiden Kindern. Wir berichten, wie lange wir in Doha sind (vier Wochen), wo wir wohnen (bei Freunden), wie wir Katar finden (manches gut, anderes nicht) – und wir erzählen, dass wir jetzt nachhause fliegen, um mit unserer Familie Weihnachten zu feiern.
Kris wird ernst: „Ich bin auch Christin“, sagt sie in ihrem gebrochenen Englisch. „Ich bin jetzt vier Jahre und sieben Monate hier in Doha – seitdem habe ich meine Kinder nicht gesehen. Christmas only Video Call.“
So einen Satz muss man erst einmal verdauen. Natürlich haben wir von dem viel kritisierten Kafala-System gelesen, das viele Arbeits-Migranten hier in Katar quasi zu Leibeigenen gemacht hat. Obwohl es offiziell abgeschafft ist, soll es unter der Hand weiterexistieren.
Gibt es keine Möglichkeit für eine Heimreise? „Doch“, sagt Kris. „Aber ich will hart arbeiten, damit meine Kinder eine gute Schule besuchen können.“ Die beiden sind 11 und 7 Jahre alt und wachsen bei Kris´ älterer Schwester auf. „Sie fragen immer, wann ich komme. Vielleicht schaffe ich es nächstes Jahr genügend Geld zu sparen, um nachhause fliegen zu können.“
Kris weint nicht, Kris klagt nicht. Sie sagt einfach, wie es ist. Und sie ist mit ihrer Geschichte hier in Doha beileibe nicht alleine. Das Heer der einfachen Gastarbeiter ist riesig.
Wir begegnen ihnen überall: Zu Tausenden als Security-Personal und Helfer an den Stadien, U-Bahn-Stationen oder auf dem Fanfestival. Immer freundlich, immer hilfsbereit – und wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, immer dankbar, dass viele Menschen zur WM nach Katar gekommen sind. „Metro – this way“ ist hier in Doha schon zum geflügelten Wort geworden.
„Metro – this way“ ist hier in Doha schon zum geflügelten Wort geworden.
Vielen Frauen – meistens von den Philippinen – sehen wir beim Familienausflug als Kindermädchen und Haushaltshilfe. Sie tragen vollverschleierten Damen die Einkäufe hinterher. Sie warten in Reihen, bis die lieben Kleinen fertig sind mit Kindergeburtstag. Oder sie sitzen geduldig da, bis das Hundi beim Gassi sein Kacki gemacht hat.
Unzähligen Männern begegnen wir beim Public Viewing: Ganz am Ende der Corniche – der für die WM aufgepeppten kilometerlangen Uferpromenade – steht ein riesiger Wide Screen, auf dem den ganzen Tag Werbung gezeigt wird. Hier laufen aber auch die Spiele. Wir waren zweimal dort – und hatten beide Male das gleiche Erlebnis: Noch zehn Minuten vor Anpfiff ist kaum etwas los – aber ein paar Minuten später sitzen wir plötzlich zwischen mehreren Tausend Männern aus Südasien.
Rundum sind Essensstände aufgebaut, zu verdienen gibt es für die Betreiber allerdings kaum etwas. Der Eismann bimmelt fast schon flehentlich, aber vergeblich. Denn die, die da lagern, sind fast ausnahmslos Arbeiter. Sie bekommen Kost und Logis gestellt – ihren Lohn schicken sie nachhause. Oder sie sparen eisern, um irgendwann heiraten zu können – so hat es mir zumindest Amit von sich erzählt, der Taxifahrer aus Nepal, der mich an meinem ersten Tag vom Flughafen zum Hotel gefahren hat.
Ein Mindestlohn von unter 300 Euro macht betroffen. Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht: Dieses System ernährt Hunderttausende Familien. Und der Ägypter Mustafa, den ich bei meinem ersten Besuch im Saudi House getroffen habe, meinte: „Ich arbeite hier auf dem Bau – nach Europa komme ich ja nicht rein.“
Längst gibt es auch eine kleine Industrie um die Arbeiterinnen und Arbeiter herum – zum Beispiel in den Supermärkten.
Was klar ins Auge sticht: In Katar gibt es ein Drei-Klassen-System: Die unterste Klasse bilden die Arbeiter. Sie sind in den allermeisten Fällen alleine hier. Erst ab 10.000 Rial (das sind rund 2.500 Euro) Monatseinkommen kann man die Familie nachholen – so erklärt es uns unsere Gastgeberin.
Sie gehört als in England und den USA studierte Juristin zur zweiten Schicht: die der gut qualifizierten Fachleute. Menschen aus der ganzen Welt kommen nach Doha, um hier gutes Geld zu verdienen – manche nur für ein paar Jahre, manche aber auch für länger. Auch hier gibt es große Unterschiede: Wer einen Abschluss einer westlichen Uni vorweisen kann, verdient am besten. Wer mit einem Diplom einer indischen Uni kommt, hat es da schon viel schwerer.
Die Fachleute sind geachtet – aber auch nicht mehr. Es ist quasi unmöglich, die katarische Staatsbürgerschaft zu erlangen – und damit die Privilegien, die Kataris haben. Ich weiß immer noch zu wenig, deshalb kann ich auch gar nicht weit ausholen. Aber es ist zum Beispiel hier in Katar unmöglich, ein Business ohne einen Katari zu betreiben. Selbst Bilal aus Bangladesch, der sich vom Arbeiter zum Uber-Fahrer mit eigenem Auto hochgearbeitet hat, braucht am Ende einen Katari für eine Lizenz – und muss dementsprechend von seinem Verdienst abgeben. Gepaart mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft macht das die „Einheimischen“ zu sehr reichen Menschen.
Seit ein paar Tagen weiß ich auch, wo sich die Superreichen unter ihnen gerne die Zeit vertreiben: Nach dem letzten Gebet des Tages beginnt sich die Al Hazm-Super-Luxus-Mall langsam zu füllen. Hier hat sich der Immobilienunternehmer Mohamed A.K. El Emadi einen Renaissance-Traum verwirklich: Nicht aus Beton mit drangepappten Fassaden wie beim Berliner Stadtschloss, sondern massiv aus echtem Carrara-Marmor – und mit in Italien und Spanien ausgebuddelten, bis zu 800 Jahre alten Olivenbäumen.
Drin gibt´s erlesene Schweizer Schokolade von Läderach, Juweliere, Sportwagen von McLaren – und allerdings auch jede Menge Leerstand …
Das Gas macht Vieles möglich – ich bin da ganz vorsichtig: womöglich auch, eine Fußball-WM zu kaufen und Abgeordnete des Europa-Parlaments.
Die Berichterstattung zuhause verfolge ich natürlich. Da ist es doch eine Meldung wert, dass Emir Scheich Tamin Bin Hamad Al Thani tatsächlich jedes Jahr einen Anti-Korruptions-Preis vergibt. Ein riesiges Monument vor dem Geschäftsviertel West Bay zeugt davon. Eine der Preisträgerinnen dieses Jahr: Professor Lisa A. Kehl von der Universität Hawaii. Wofür sie ausgezeichnet wurde? Für ihre Arbeit gegen Korruption im Sport. Kein Witz. Bei der Preisverleihung selbstredend anwesend: Gianni Infantino. Habe keine Fragen mehr, Euer Ehren.
Ich war wirklich vier Wochen enthaltsam (hoppla: gar nicht so schwer, Fußball ohne Alkohol). Aber darauf brauche ich erst einmal ein Bier! Gar nicht so einfach hier in Doha. Oder doch: Auf dem Fanfestival gibt´s jeden Abend 18.30 Uhr … Bier (?). Naja, es gibt Budweiser. 13 Euro für den 0,4-Liter-Becher.
Am Anfang des Turniers war das öffentlich ausgeschenkte Bier hier im offiziell streng muslimischen Katar noch eine Sensation. Tausende standen da um 18.29 Uhr jeden Tag bereit, um die Bierstände zu stürmen. TV-Teams interviewten die Glücklichen, die als erste ihre Vierer-Packs ergattert haben.
Seitdem die meisten Fans aus Europa und Südamerika abgereist sind, steht sich dort das Personal die Beine in den Bauch. Die Jungs und Mädels würden wahrscheinlich selbst zugreifen, aber ihre Religion macht da nicht mit.
Auch Budweisers Hoffnungen lagen also auf Messi. Der hat ja dann auch brav geliefert. Am Finalabend meldete denn auch das Fanfestival „full – doors closed“, 40.000 feiern dort.
Und wäre ich diese Zeilen schreibe, geht es gegenüber im Hilton wieder los. Die Argentinier sind zurück. Oh nein – um 4.30 Uhr holt uns Uber ab, um uns zum Flugzeug zu bringen. Der DJ hat derweil für die Muchachos erstmal nichts Lateinamerikanisches auf dem Plattenteller, sondern setzt zum Auftakt auf bewährte Kost: „We are the champions“.
Von unserem Appartement blicken wir über einen Highway hinweg direkt auf die Poolanlage eines der Hilton-Hotels von Doha. Hier ist ein Riesen-Bildschirm aufgebaut, auf dem alle Spiele gezeigt werden – und zwei bis dreimal pro Woche wummern bis tief in die Nacht hinein die Bässe bei Pool-Parties.
Es ist die Nacht vor dem Viertelfinale der Argentinier gegen die Niederlande. Das Management des Hotels ist nicht auf den Kopf gefallen: natürlich ist Latino-Party. Bei den Alkohol-Regeln blicke ich noch nicht ganz durch, vor der WM durften die großen Hotels jedenfalls Bier und Co. an internationale Gäste ausschenken. Ob das im Hilton jetzt immer noch so ist, kann ich aus der Ferne nicht erkennen. Was ich aber sehen (und hören!) kann: Die Stimmung ist ausgelassen.
Als der DJ gegen 2.30 Uhr endlich den Stecker zieht, hoffe ich auf eine Mütze Schlaf. Pech gehabt: Die Argentinier singen einfach weiter! Fast eine Stunde geht das noch so. Es sind ihre WM-Songs – in Dauerschleife. Einer davon ist „Argentina naci“, der ihren Gefühlszustand nach vielen verlorenen Finals und dem Tod von Maradona auf den Punkt bringt.
En Argentina nací tierra de Diego y Lionel de los pibes de Malvinas que jamás olvidaré. No te lo puedo explicar porque no vas a entender las finales que perdimos, cuántos años las lloré. Pero eso se terminó porque en el Maracaná la final con los brazucas la volvió a ganar papá… Muchachos, ahora nos volvimos a ilusionar quiero ganar la tercera, quiero ser campeón mundial y al Diego, en el cielo lo podemos ver con don Diego y con la Tota, alentándolo a Lionel.
Übersetzt: „In Argentinien bin ich geboren, dem Land von Diego und Lionel, von den Leuten auf den Malvinas, die ich niemals vergessen werde. Ich kann es nicht erklären, du wirst es nicht verstehen. Die Endspiele, die wir verloren haben, die vielen Jahre, in denen ich geweint habe. Aber das ist jetzt vorbei, weil Papa im Maracanã das Finale gegen die Brasilianer gewonnen hat. Jungs! Jetzt träumen wir wieder, ich will den dritten Stern, will Weltmeister werden. Und Diego können wir im Himmel sehen, wie er mit Don Diego und La Tota (Maradonas Vater und Mutter) Lionel anfeuert.“
Leider habe ich es nicht geschafft, ein Ticket für ein Argentinienspiel zu ergattern. Für Gänsehaut-Feeling reicht aber auch ein Besuch der Metro in Doha, wenn die Argentinier vorbeikommen. Wahlweise auch hier, wenn sich die Nationalmannschaft selbst versucht. Oder eben nachts um 3 Uhr, wenn ein paar Hundert Blau-Weiße auf der anderen Straßenseite nicht genug bekommen können.
Was ins Auge sticht: Die Argentinier haben eine riesige Fangemeinde weit über die Grenzen ihres Landes hinaus. Ihr Superstar Lionel Messi ist ein Grund dafür.
Aber nicht nur.
Ich habe hier Dr. Shiban Khan kennengelernt, sie ist eine Freundin unserer Gastgeberin. Dr. Khan hat in St. Gallen Wirtschaft studiert und ist zurzeit Assistent Professor an der University of Doha for Science & Technology.
Geboren ist sie in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Und sie konnte mir erklären, warum in ihrem Heimatland zurzeit viele blau-weiße Fahnen wehen. „Die erste Fußball-Weltmeisterschaft, die in Bangladesch im Massenfernsehen zu sehen war, war die in Mexiko 1986“, berichtet sie. Fußballfans kennen die Geschichte vom Spiel der Argentinier gegen England: Diego Maradona traf zuerst mit der „Hand Gottes“ und später mit dem Tor des Jahrhunderts nach seinem unvergleichlichen Solo. Für die Argentinier hatte der Sieg vier Jahre nach dem verlorenen Falklandkrieg eine besondere Bedeutung, Und die Menschen in Bangladesch waren Maradonas Magie und seinem Team verfallen.
Argentinien wurde Weltmeister – und die Basis war gelegt für eine Fanfreundschaft, die bis heute währt. Und bisweilen skurrile Blüten treibt: Weil es auf Facebook so viel Unterstützung aus Bangladesch für Argentiniens Fußballteam gibt, gründete der Argentinier Dan Lande die Facebook-Gruppe „fans argentinos de la seleccion der cricket de Bangladesh„, die innerhalb von kurzer Zeit über 175.000 Follower ergatterte. Im Fußball rangiert Bangladesch unter ferner liefen, im Cricket gehört das Nationalteam aber zu den Top Ten der Welt. „Wir haben hier in Argentinien wirklich keine Ahnung von Cricket“, gab Lande allerdings freimütig zu – mit der Folge, dass die Menschen aus Bangladesch jede Menge Cricket-Tutorials auf seiner Seite zur Verfügung stellen …
Shiban Khan wurde selbst mit Fußball groß: „Wenn die wichtigen Spiele in Europa stattfinden, ist es ja bei uns in Bangladesch mitten in der Nacht“, erzählt sie. „Aber mein Vater ist mit uns aufgeblieben und hat uns geduldig alles rund um Fußball erklärt.“ Das hatte Folgen: Shiban ist dem Fußball verfallen und doziert im Gespräch mit Freude über taktische Feinheiten – mir zum Beispiel vor dem Spiel zwischen Frankreich und England.
Argentinien-Fan ist sie indessen nicht geworden – sie hat einen Narren an Deutschland und Jürgen Klinsmann gefressen. Der Grund: „Meine erste WM war 1990.“ Mittlerweile hat sie einen Deutschen geheiratet und nach dem Studium in der Schweiz mehrere Jahre zwischen Frankfurt und Wiesbaden gelebt. Sie hat dort ihre Kinder bekommen und viel Lob übrig über das deutsche Betreuungs- und Bildungssystem – von den Tagesmüttern bis zu den kostenfreien Universitäten. Hier in Doha gehen alle drei Kinder in die deutsche Schule.
„1990!“ – Dieser Mann, den wir im Fanshop auf dem Fanfestival getroffen haben, teilt tatsächlich Dr. Khans Leidenschaft …
Bei der WM hat diese Liebe allerdings Risse bekommen. Nach einem kritischen Facebook-Beitrag zur Hand-vor-den-Mund-Geste des Deutschen Teams beim Japan-Spiel bat sie die Dhaka Tribune, ihren Standpunkt zu erläutern. Das hat sie in einem Artikel getan und dargelegt, warum sie die Geste heuchlerisch fand. Spannende Lektüre!
Das deutsche Boot ist hier in Doha zwar nicht untergegangen, aber es musste ziemlich früh die Segel streichen. Jeden Tag zieht eine Dhau-Parade mit den Teams durch die Bucht, die noch im Wettbewerb sind.
Nettes Gimmick! Ansonsten heißt es hier in Doha aber: Klotzen statt Kleckern!
Der zentrale der fünf Bildschirme auf dem Fanfestival hat gigantische Ausmaße. Mit ihm die Subwoofer: Wenn mal eben Calvin Harris zwischen zwei Viertelfinals gratis auftritt, bringen die Bässe Fish & Chips im Magen kräftig in Unordnung.
An vielen Orten stehen riesige Screens für Public Viewing.
Ein Feuerwerk gibt es nicht bei Eröffnung und Abschluss, sondern einfach jeden Tag – inklusive einer Show mit Hunderten Licht-Drohnen, die wahlweise einen Fußballer oder „Welcome to Qatar“ an den Himmel zaubern.
Irgendwie sind alle ein wenig verrückt hier. Im Speziellen derzeit die Argentinier und natürlich die Marokkaner, aber eben auch die Kataris ganz allgemein.
Bescheidenheit ist nicht die Sache der Herrscher über diesen Wüstenstaat, der quasi über Nacht zu unermesslichem Reichtum gekommen ist.
Ganz Doha kommt mir bisweilen vor wie ein Disneyland, bei dessen Bau der Chef dem Controlling freigegeben hat.
Ich brauche nur nachts aus dem Fenster zu schauen:
Daheim versuchen wir Energie zu sparen – im Land des Überflusses hat jedes Hochhaus-Stockwerk sein Neon-Lichterband.
In Laufentfernung liegt das italienische Viertel – inklusive florentinischer Porto-Vecchio-Kopie. Jeden Abend gibt es hier eine venezianische Bootsparade zu Verdi und Techno.
Für mich gruseliger Kitsch, aber die Leute lieben es. Und wenn Geld keine Rolle spielt, …
… dann verursacht selbst die auf 70-Millionen Euro geschätzte Jacht Attila des argentinischen Millionärs Maurizio Filiberti im Hafen keinen Auflauf.
Hinter dem Haus, in dem unsere Gastgeberin im 16. Stock ihr Appartement hat, hat am Jachtclub ein Floß aus Dubai mit einem Lamborghini-Shop festgemacht.
Für unsereins nur noch skurril: Die Ausgeh-Meile Lusail Boulevard ist klimatisiert. Aus den schwarzen Schächten strömt einem beim Vorbeiflanieren eiskalte Luft entgegen. Aber bei Sommertemperaturen von bis zu 50 Grad und gleichzeitig Energie im Überfluss …
Ich könnte jetzt noch eine Weile weitermachen mit Luxus und Verschwendung. Und müsste mir dann wahrscheinlich Dinge anhören wie: „Ihr lebt doch auch in viel zu großen Häusern und heizt die im Winter auf 23 Grad, wo 19 Grad reichen würden.“
Also belasse ich´s dabei.
Herausgekommen bei all dem Gigantismus ist ja zum Teil auch wirklich spannende Architektur wie zum Beispiel der Bau des Nationalmuseums, das Architekt Jean Nouvel einer Sandrose – eine Sandkristallformation, die auch in Katar vorkommt – nachempfunden hat.
Hier haben wir im Museumscafé einen Mann getroffen, dessen Stimme mit dem letzten großen Erfolg unserer Nationalmannschaft für viele untrennbar verbunden ist. „Mach ihn! Er macht ihn!“ In einer Ecke des Cafés saß tatsächlich ARD-Reporter Tom Bartels und bastelte an einem Text. Ein sympathischer Mensch, der uns gleichzeitig Respekt abnötigte: Er kommentierte nämlich von hier aus den Skisprung-Weltcup im kalten Titisee und den heißen Kampf zwischen Argentinien und den Niederlanden im Viertelfinale der WM.
Zufallstreffen: Tom Bartels mit unserer Gastgeberin Rukhsana (2. v.l.), ihren Kindern Hana und Yamaan, sowie Andrea und mir.
So habe ich auch meinen Übergang 🙂
Nach dem Sieg der Albiceleste gegen Oranje poppt in unserer privaten Argentinien-Whatsapp-Gruppe eine Nachricht von Vicky auf. Sie war kurz vor Corona zwei Monate lang als Austauschschülerin bei uns zu Gast – meine Tochter Katharina reist Anfang Januar 2023 endlich zum Gegenbesuch zu ihr nach Buenos Aires.
Mit der schnöden Nachricht „Mein Viertel“ und einem Ach-Du-Lieber-Gott-Smilie schickt sie ein Video von einer Hundertschaft Halbnackter, die vor ihrem Haus durch die Straßen springen – und natürlich singen.
Kurz darauf blinkt es wieder auf meinem Bildschirm. „Sie sind verrückt“, schreibt Vicky. „Und es war erst das Viertelfinale.“
Ich bin nach Russland zum zweiten Mal bei einer Fußball-Weltmeisterschaft – und zum zweiten Mal spielt die deutsche Nationalmannschaft die schlechteste WM aller Zeiten. Wenn es da keinen Zusammenhang gibt … Bevor der DFB sich mit einer ernsthaften Analyse abmüht: Ich stelle mich hiermit als Sündenbock zur Verfügung.
Kleiner Fortschritt: Immerhin habe ich diesmal Spiele von Neuer und Co. gesehen. Für „die Mannschaft“ hatte ich in Russland bloß Optionstickets. Wenn die Jungs damals die Vorrunde überstanden hätten, dann wäre ich bei Achtel- und Viertelfinale dabei gewesen. Ja wenn …
Aber obwohl ich in Russland kein einziges Fußballspiel gesehen habe, war die Reise nach Moskau und Kasan unvergesslich. Das wird bei der aktuellen Reise nicht anders sein. Auch wenn erneut 16 Teams – unter anderem ein paar Känguruhs – an uns vorbei ins Achtelfinale gehoppelt sind.
Ich hatte drei Stunden vor Spielbeginn noch ein Ticket für das denkwürdige 1:0 der „Aussies“ gegen Dänemark bekommen. „They have the better players, but we played with heart“, sprach dieser Herr dem Reporter nach dem Schlusspfiff euphorisiert ins Mikrofon. Da ist was Wahres dran: Die Dänen wirkten ähnlich unmotiviert wie die deutsche Mannschaft nach der 1:0-Führung im Spiel gegen Costa Rica. Da hatte ich nach den starken Anfangsminuten richtig Hoffnung geschöpft, dass unser Team doch noch in die WM hineinfindet. Dann rumpelten sich die Jungs auf rätselhafte Weise in ein 1:2 und am Ende trotz Leistungssteigerung aus dem Turnier.
… vor dem nächsten Debakel.
So war es aus deutscher Sicht wieder eine WM der Enttäuschungen – und der Missverständnisse. Auch im Kleinen übrigens: Der Fanclub Nationalmannschaft skandierte tapfer sein „Steht auf, wenn Ihr für Deutschland seid“. Es waren zwar auch gegen Costa Rica wieder Tausende Menschen in unseren Trikots im Stadion. Bloß: Der Inder hier versteht halt in der Regel kein Deutsch. Und so blieben all die Weiß-Schwarz-Gewandeten sitzen und schauten bloß ratlos, als wir uns von unseren Sitzen erhoben.
Mein Eindruck: Die Mannschaften – nicht bloß die deutsche – vergeben hier so richtig eine Chance. Wenn Joshua Kimmich nur einmal bei einer Pressekonferenz gesagt hätte „Vielen Dank an all die Menschen aus Nepal, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und Indien, die unsere Trikots tragen“, hätte er auf einen Schlag Hunderttausende neue Fans gefunden. Von außen sieht es so aus, dass die WM in Katar eine WM der Araber ist – und natürlich stimmt das auch. Aber in den Stadion sind die Menschen aus Südasien klar in der Überzahl – es ist auch ihre WM.
Sie stehen hier in Katar für den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung. Alleine die Inder stellen rund 700.000 der knapp 3 Millionen Einwohner – Kataris gibt es bloß 300.000. Ganz ähnlich ist die Situation zum Beispiel in Dubai: 40 Prozent der Bevölkerung kommt aus Indien, die Emiratis haben im eigenen Land gerade einmal einen Anteil von knapp 12 Prozent.
Irgendwie verrückt: In Indien ist Cricket Nationalsport, Fußball kennen die Inder – ich lasse jetzt mal die anderen Länder der Einfachheit halber weg – nur aus dem Fernsehen. Die Nationalmannschaft steht im FIFA-Ranking auf Rang 106. Insider kennen die Story um die einzige Qualifikation des indischen Teams für eine WM-Endrunde: 1950 war Indien eigentlich dabei, sagte aber die Teilnahme ab. Der Grund: Die FIFA hatte kurz vor dem Turnier die Pflicht zum Tragen von Fußballschuhen eingeführt, in Indien spielte man aber noch barfuß.
Die Inder hier in Katar sind dennoch geradezu verrückt nach der WM. Nibil (rechts) und Rasniya (daneben) sind mit ihrer sechs Monate alten Tochter Eva alle zwei Tage bei einem Spiel oder beim Public Viewing. Ich habe die drei und ihre Freundin Nizy gleich bei meinem ersten Besuch auf dem Fanfestival kennengelernt – wir halten Kontakt und treffen uns immer wieder.
Besonders stolz ist Nibil darauf, dass er Karten für das Finale ergattert hat – für mich angesichts schon aufgrund der regulären Kartenpreise ab rund 550 Euro keine Option. Nibil hat eine Beratungsfirma, die Unternehmen dabei begleitet, ihr Business in Katar zu starten. Aber auch die Inder, die hier in Katar beispielsweise auf dem Bau arbeiten, sind am Start: Möglich macht das eine 4. Preiskategorie für Einwohner von Katar – Vorrundenspiele kosteten für sie zum Beispiel nur 10 Euro. Im Bus zum Spiel der Australier gegen Dänemark bin ich kurz mit Deepak aus dem südindischen Bundesstaat Kerala ins Gespräch gekommen. „Mein Arbeitgeber gibt mir frei, wenn ich ein Ticket für ein Spiel habe“, berichtet er. Natürlich frage ich ihn irgendwann auch nach seinen Arbeitsbedingungen. „Vor ungefähr drei Jahren hat sich für uns einiges gebessert, wir haben jetzt viele neue Freiheiten“, sagt Deepak – und schränkt aber auch gleich ein: „Wir hoffen jetzt, dass der Emir die Verbesserungen nicht nach der WM wieder zurücknimmt.“
Es ist nicht so, dass die meisten meiner neuen indischen Freunde den Kicker lesen oder sonst irgendwie Fans vom Fach wären. „Offside – why offside?“ Ich habe hier schon mehrfach den alten Klassiker Abseitsregel erklärt. Und ich muss gelegentlich feststellen, dass die Halbzeitshow und das Feuerwerk so manchen Zuschauer eher vom Handy wegreißen als wirklich wichtige Fragen wie „falsche oder echte Neun?“ oder „Vierer- oder Dreierkette?“. Ein gefundenes Fressen für die Fußballpuristen bei uns und ihre These „Dort gibt es keine Fußballtradition, deshalb gehört die WM da nicht hin“.
Ich bin da aber anderer Meinung: Fußball ist für alle da, auch die WM. Gerade die WM hier hat unglaubliches Potenzial, noch mehr Menschen für dieses Spiel zu begeistern. Wie sagt doch meine Gastgeberin hier in Doha – selbst in England aufgewachsene und in den USA studierte Inderin: „Wir `Braunen´ sind viel mehr als Ihr weißen Europäer.“
Hilfe – holt mich hier raus. Innerlich rufe ich sämtliche Teile meines meines Ohres zum Appell zusammen: Trommelfell, Paukenhöhle, Gehörknöchelchen, Schnecke – seid ihr noch da? Neben mir sitzt Andrea, meine Frau. Sie hat den Kopf eingezogen, ihre beiden Zeigefinger stecken in ihren Ohren fest.
Über uns fegt ein infernalischer Lärm hinweg. Tausende kreischen, buhen und pfeifen, was Lunge und Finger hergeben – bloß, weil Eden Hazard nur in die Nähe des Balles gekommen ist. Im nächsten Moment schon schlägt die Tonlage um und die Menge peitscht Hakim Ziyech nach vorne, der rechts vorne den Weg durch zwei Gegenspieler hindurch sucht.
Es ist wie ein Start des Airbus 380, bei dem obendrauf noch AC/DC aus der Pilotenkabine den Weg zur Hölle weist.
Mit anderen Worten: Die Stimmung hier im Al-Thumama-Stadion beim Spiel von Marokko gegen Belgien ist großartig.
Schon das Singen der Nationalhymne ist ein Erlebnis.
OK – ein wenig einseitig vielleicht. Von den knapp 44.000 Zuschauern sind geschätzt 35.000 für Marokko. Wo sind all die Leute geblieben, die wir beim Hineingehen mit belgischen Trikots gesehen haben? Vielleicht haben sie klammheimlich die Seite gewechselt. Groß auffallen würde das nicht – bei beiden Trikots dominiert die Farbe Rot.
Auf jeden Fall sind nicht nur die belgischen Fans beeindruckt, auch ihre „goldene Generation“ ist auf dem Platz total gehemmt. Marokkos Star Hakim Ziyech wird später zum „player of the match“ gekürt. Eden Hazard, vor einigen Jahren noch in einem Atemzug mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi genannt, nimmt sein Trainer mangels Wirksamkeit vorzeitig vom Feld.
Abdelhamid Sabiri gelingt in der 73. Minute das Schlitzohr-Freistoß-Tor zum 1:0 für die „Löwen vom Atlas“. Das Stadion rastet völlig aus. Als Zakaria Abdoukhlal in der Nachspielzeit mit dem 2:0 den Deckel draufmacht, gibt es kein Halten mehr. Kurz habe ich Angst, dass die Fans um uns herum über die Brüstung nach unten springen.
„Maghreb, Maghreb“ hallt es durch das Stadion – und „team marroquin, team marroquin“. Zumindest wenn ich das richtig verstehe.
Das Al-Thumama-Stadion
Auf der Ehrentribüne applaudiert Katars Emir Sheikh Tamim bin Hamad al-Thani.
Seine Rechnung geht auf – ob man es nun gut findet oder nicht: Mit diesem Turnier spielen sich die Araber auf der Fußball-Weltkarte fest – nicht nur durch die Milliarden des Scheichs, auch sportlich. Mit Marokko hat zum zweiten Mal ein Team aus der arabischen Sphäre die Sensation geschafft und einen der Favoriten geschlagen, auch wenn es im Fall von Belgien nur der ewige Geheimfavorit ist.
Den Weg bereitet für eine unglaubliche Euphorie und eine Fußball-Solidarität von Riad bis Casablanca haben aber die „grünen Falken“ aus Saudi-Arabien mit ihrem Sieg gegen Argentinien.
Kurzer Einschub: Nein – ich habe nicht vergessen, wo ich bin. Ich habe nicht vergessen, was meine Werte sind und dass ich in einer Diktatur zu Gast bin. Natürlich bin ich mir bewusst, was das Nachbarland Saudi-Arabien mit den Milliarden und Aber-Milliarden aus dem Ölgeschäft im Jemen und anderswo treibt.
Aber das hindert mich nicht, neugierig auf die Menschen zu sein, die dort leben. Und sehen zu wollen, wie sie den Fußball und ihr Team feiern.
Ihren Sieg gegen Argentinien haben die Saudis mit einem ausgiebigen Auto-Korso gefeiert.
In Doha geht das nirgendwo besser als im „Saudi House“. Katar hat nur eine Landgrenze – mit Saudi-Arabien. Viele Saudis sind zur WM angereist. Ihre Regierung hat mit dem Saudi House eine eigene Fan-Botschaft eingerichtet. Direkt am Hochhaus-Viertel „West Bay“ in Strandlage präsentieren sich hier die Regionen des Landes, das in Zukunft mehr Touristen anziehen möchte. Im Zentrum des Saudi House steht natürlich ein großer Bildschirm für Public Viewing, die Anlage hat eine Kapazität für mehrere Tausend Fans.
Mit Meshal und Jaber im Saudi House
Hier treffe ich mit Meshal und Jaber ein. Die beiden haben mich im Bus aufgegabelt, sie sind aus Dschiddah eingeflogen, der saudischen Millionenstadt am Roten Meer. Ehe ich mich versehen kann, bin ich mit Wasser und Cola versorgt und trage einen Schal. Erst später realisiere ich, dass es die Flagge des Landes ist. Eine Anfrage bei Google ergibt, dass sie grün ist (habe ich gemerkt) und das islamische Glaubensbekenntnis enthält: „Es gibt nur einen Gott und Mohammed sein Prophet.“ Darunter ein Schwert. Oha – so schnell gerät man in etwas hinein, was einem später nicht gefällt.
Meshal und Jaber sind allerdings ganz und gar friedlich. Besonders Jaber kümmert sich um mich. Er outet sich als glühender Fan von Bayern München und trägt einen Rucksack in den Deutschen Nationalfarben. In der Pause lotst er mich zu einem Essensstand: Alle Besucher sind am diesem Tag von Saudi-Arabien zum Essen eingeladen. Ja – auch Deutsche und Araber, die einen Deutschland-Rucksack tragen. Ich lasse mir die Chicken Sticks mit Pommes schmecken. Bin ich jetzt gekauft?
Jaber gibt mir jedenfalls zu verstehen, dass meine Idee, mich für Cola und Wasser zu revanchieren, keine gute ist: „Du bist hier der Gast!“ wehrt er entschieden ab.
Das Public Viewing ist ein ganz besonderes Erlebnis: Vorher gibt´s saudische Folklore – und dann einen arabischen Kommentator, von dem ich zwar fast nichts verstehe, der mir aber trotzdem in Erinnerung bleibt. Während Béla Réthy und Co. auch mal eine Pause machen, redet der Reporter hier in einem durch. Seine Emotionen würde er nie bremsen und beinahe in jeder Minute wird Gott bemüht. Findige Journalisten haben nachgezählt, dass der Kommentator nach dem 2:1-Siegtreffer gegen Argentinien nicht weniger als sechsmal Allah gepriesen hat, bevor er seine Lobeshymne auf den Siegtorschützen anstimmte.
Indessen kann die saudische Mannschaft die Überraschung des Argentinien-Spiels gegen Polen nicht wiederholen. An der körperlichen Robustheit von Robert Lewandowski und seinen Mannschaftskollegen prallen die Falken regelrecht ab – und besonders clever stellen sie sich auch nicht an: Sie gehen zu Beginn der Partie so hohes Tempo, dass sie schon nach 30 Minuten ausgepumpt wirken.
Die Halbzeitansprache von Trainer Hervé Renard hilft diesmal nicht (die aus der Partie gegen Argentinien unbedingt auf Youtube anschauen – sinngemäße Kurzfassung: „Willst Du mit Messi ein Foto machen oder ihn verteidigen?“). Trotzdem stemmen sich Renards Spieler bis zum Schluss gegen die Niederlage. Nach dem 0:2 durch einen katastrophalen Abwehrfehler verlassen zwar einige Zuschauer das Saudi House, der ganz überwiegende Teil bleibt aber und applaudiert dem Team nach dem Schlusspfiff.
Während des Spiels komme ich mit einem Syrer ins Gespräch. Er ist Fitness-Coach und lebt jetzt in LA, hat aber auch schon in Deutschland gearbeitet – erst vor Kurzem war er in Kempten. Stolz zeigt er mir ein Selfie von sich mit einem vollen Maßkrug auf dem Oktoberfest, beeilt sich aber zu beteuern: „Getrunken habe ich nichts.“ Ob´s stimmt oder nicht, ist mir egal. Mir kommt nur in den Sinn, dass die einzigen drei Angetrunkenen, die ich hier in Doha bisher gesehen habe, drei junge Saudis waren. Einer von ihnen hat bei voller Dröhnung auf dem Fanfest mit dem Kopf auf meinem Rucksack gepennt.
Nach dem Ende der Partie schlendere ich noch über das Gelände des Saudi House und unterhalte mich kurz mit Big Moe. Er ist ein Graffiti- und Kalligraphie-Künstler aus Riad und malt an einem riesigen Bild von Yasser Al-Sharani. Der linke Verteidiger war beim Sieg über Argentinien mit dem eigenen Torwart zusammengeprallt und hat mehrere Knochenbrüche und innere Blutungen erlitten. „Er ist bei uns ein Held“, sagt Big Moe.
Aus der Heimat erreicht uns eine whatsapp-Nachricht meines Schwiegervaters:
„Jeder Spieler von Saudi-Arabien, der beim Sieg gegen Argentinien dabei war, bekommt vom König einen Rolls Royce. Ein saudischer Verein bietet Cristiano Ronaldo eine Drei-Jahresvertrag für 216 Millionen Euro. Lieber Gott – warum hast Du auf der Schwäbischen Alb oder im Schwarzwald keine Öl- und Gasfelder angelegt???“
Andrea antwortet: „Da musst Du wohl Allah fragen.“
Und ich denke mir: Bohrtürme auf dem Schauinsland? Dann doch lieber Windräder. Aber Ronaldo beim FC Albstadt – das hätte was …
Ich habe eine Weile gezögert, ob ich meinen Blog überhaupt fortsetzen soll. Die Stimmung in Deutschland zur Fußball-Weltmeisterschaft ist ja völlig vergiftet. Ich weiß nicht, wie in dieser Situation mein persönlicher Eindruck aus Doha ankommt. Denn neben Negativem und Merkwürdigem erlebe ich hier natürlich auch viel Positives.
Ich versuche es einfach mal – dieser Text ist allerdings schon mehr als eine Woche alt …:
Ende Juli bin ich mit dem Fahrrad aufgebrochen, um von Ravensburg nach Katar zur Fußball-Weltmeisterschaft zu fahren. Ich bin in drei Monaten bis Armenien gekommen, dort war aufgrund der Unruhen im Iran leider Endstation. Schade – Iran stand auf meiner Liste ganz oben. Nicht nur wegen seiner Jahrtausende alten persischen Kultur, sondern vor allem, weil die Iraner im Ruf stehen, eines der gastfreundlichsten Völker der Welt zu sein.
Aber ich schweife ab: Jetzt fliege ich zur WM – in ein Land, das bei uns massiv in der Kritik steht. Zu Recht: Missachtung der Rechte von Homosexuellen, Ausbeutung von Arbeitern, Korruption, Greenwashing – das sind nur einige der Themen, die seit Wochen und Monaten bei uns die Berichterstattung über die kommende Weltmeisterschaft dominieren. Vielen Menschen hat das die Freude an der WM genommen. Ich kann das durchaus verstehen.
Bei mir ist der Glaube an die Kraft des Fußballs und die Freude an den Spielen aber einfach zu groß – und meine Neugier. Ich war zuletzt bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich und bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Beide Male habe ich erlebt was Fußball kann: Menschen aus der ganzen Welt zum Feiern zusammenbringen und das Gastland im positiven Sinne in einen Ausnahmezustand versetzen.
Solche Erlebnisse kann mir auch keiner nehmen – nicht mal die FIFA mit ihren Entscheidungen.
Ich habe das Glück, dass meine Frau eine Freundin in Katar hat. Sie hat uns eingeladen, während der WM bei ihr zu wohnen.
Ich bin gespannt auf Katar: auf die Menschen, die ich dort treffen werde, und auch auf das Land selbst.
Und ich bin gespannt auf das Abschneiden unserer Mannschaft. Mal sehen, ob die Jungs den Kopf freibekommen und ein gutes Turnier spielen. Ich wünsche es Ihnen – auch mit Blick auf „unsere“ EM in zwei Jahren.
Meine WM beginnt in Istanbul
An einem grauen Novembertag steige ich in Stuttgart ins Flugzeug. Hier in Deutschland ist nichts davon zu spüren, dass das größte Sportereignis der Welt beginnt.
Die Stimmung ist klar gegen dieses Turnier. Sie ist so schlecht, dass es in den Auslagen der Geschäfte keine Trikots und Fanartikel gibt und Wirte beteuern, dass sie in ihrem Gasthaus auf keinen Fall Fußball zeigen werden. Viele Menschen sagen sogar, dass sie sich kein einziges Spiel anschauen wollen.
Ich für mich habe entschieden, dass ich das sehr wohl kann – sogar im Stadion. Ich habe Tickets für die beiden Vorrundenspiele der deutschen Mannschaft gegen Japan und Costa Rica sowie für zwei weitere Vorrundenpartien.
Trotzdem sitze ich mit gemischten Gefühlen im Flieger Richtung Zwischenstopp Istanbul. Erst am Gate zum Weiterflug nach Doha bin ich zum ersten Mal wirklich sicher, dass meine Entscheidung die richtige ist. Der Grund ist Rodrigo, ganz in Grün gewandet unschwer als Mexikaner zu erkennen. Rodrigo stülpt mir kurzerhand einen Sombrero über und nimmt mich in die Arme. Mein Spanisch ist im Laufe der letzten Jahre ziemlich verschütt gegangen – aber so viel verstehe ich doch in unserer kurzen Unterhaltung: „Armer Deutscher, wo sind Deine Emotionen? Es ist Fußball.“
Und als sein Kumpel – dessen Tenor beinahe Opern-Niveau hat – die kürzlich in seinem Land auf Tiktok viral gegangenene Fan-Version des Hits „No se va“ anstimmt und die ganze Gruppe mitgrölt, checke ich innerlich ein.
Ich lese später nach: Sie singen davon, dass sie momentan keine großen Stars wie andere Teams haben, ihre große Namen wie Carlos Vela oder Chicharito fehlen. Aber dass sie trotzdem an den Titel glauben und dass die Hoffnung „no se va“ – niemals vergeht: „Wir haben nicht Ronaldo und auch nicht Neymar, aber wir wollen diesen Titel und niemand wird uns das nehmen.“
Ein paar Kraftausdrücke und Provokationen gegenüber Vorrundengegner Argentinien dürfen auch nicht fehlen. Natürlich fühlen sich die Gauchos nebendran sofort genötigt, ihre eigenen Songs anzustimmen und ihr Loblied auf Messi zum Besten zu geben. Wenig später folgt aber die lautstarke Fußball-Verbrüderung: „America Latina, America Latina“ gegen den Rest der Welt.
Und ich weiß: Hier bin ich richtig.
Das erste Spiel: Nippon takes it all
1:0 für Nippon – in der Gunst vieler neutraler Zuschauer hier in Katar lagen die Japaner schon vor Anpfiff der Partie gegen Deutschland in Führung. Der Grund: Ihre Tradition, im Stadium nach dem Spiel sauberzumachen. Nach dem Eröffnungsspiel ging auf Tiktok ein Video von @omr94 viral, in dem er sich bei den Japanern bedankte, die Müll in großen Säcken sammelten. Tausende kommentierten begeistert. Der katarische Unternehmer Mohammed Hassan Al Jefairi twitterte: „Sie machen das Stadion sauber, obwohl es nicht ihr Match, nicht ihr Land und nicht mal ihr Müll ist.“
Und wie ist es um unser Image bestellt? Was ich festgestellt habe: Man kommt hier unglaublich schnell ins Gespräch. Die Leute sind sehr freundlich und heißen einen willkommen – egal ob es Zuschauer, die überall gegenwärtige Security oder das Personal im Hotel sind. Wenn ich dann sage, dass ich aus Deutschland bin, steigt die Anerkennung sogar noch, gerade bei den Einwanderern. Die Tunesierin Marwa, die in einem Restaurant im Service arbeitet, wünscht sich ganz direkt: „Ich habe zwei Diplome in Biologie – könnt Ihr mich nach Deutschland bringen?“
Unsere Fußballstars kennen dank weltweiter Vermarktung von Campions League, Premier League, La Liga und auch der Bundesliga sowieso alle: Als im Stadion die Spieler vorgestellt werden, bekommen Manuel Neuer und Thomas Müller mit Abstand den meisten Applaus. Sie sind hier das Gesicht unseres Teams – wer in den Stadtteil Westbay fährt, wird von einem Neuer in Hochhaus-Größe begrüßt.
So ist im Khalifa-Stadion, wo die Partie zwischen Deutschland und Japan stattfindet, Schwarz-Rot-Gold gefühlt sogar vorne. In meinem Block haben gleich mehrere Einwanderer-Familien komplett – von Papi bis zum kleinen Töchterlein – den Adler auf der Brust.
Davon, dass unsere Spieler beim Mannschaftsfoto aus Protest gegen die FIFA die Hand vor den Mund halten, bekommen sie nichts mit. Überhaupt ist die Diskussion um Katar als Austragungsort der WM offenbar auf einen Teil der Welt beschränkt. Mexikaner, Argentinier oder Brasilianer zucken mit den Schultern, wenn ich sie frage, ob das bei ihnen ein Thema ist. Auch ich erfahre von der Aktion unserer Mannschaft erst aus den deutschen Medien. Dort lese ich auch, dass unsere Innenministerin Nancy Faeser auf der Tribüne die One-Love-Binde trägt.
Wie das hier ankommt? Ganz ehrlich: Ich kann es nicht sagen. Es ist meiner Frau und mir bisher nicht gelungen, mit Kataris direkt ins Gespräch zu kommen. Sie sind ein kaum greifbares Mysterium, aber das wird ein anderer Text.
Was greifbar ist: Die Kritik hat die ganze arabische Welt ein Stück weit zusammengeschweißt. Der Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien ließ die Stimmung förmlich explodieren. Beim Autokorso fuhren zahlreiche Autos mit, aus deren Fenstern die katarische und die saudi-arabische Flagge geschwenkt wurden. Bis vor kurzer Zeit undenkbar: 2017 hat Saudi-Arabien zusammen mit anderen Ländern noch ein Embargo gegen Katar verhängt, erst seit Januar 2021 ist die Grenze zwischen Katar und Saudi-Arabien wieder offen.
Im Spiel läuft zunächst alles nach Plan für die deutsche Mannschaft. Aus einer enormen Ballbesitz-Übermacht macht das Team in Halbzeit eins allerdings nur ein Elfmeter-Tor. Ansonsten haben die Jungs – angeführt vom in der Liga noch so treffsicheren Bayern-Block aus Kimmich, Gnabry, Musialla und Müller – den Kopf nicht frei und verballern neben dem Elfmeter 25 Torschüsse. Dadurch wird unsere bekannte Abwehrschwäche tatsächlich zu einem Problem – außer Rüdiger und Neuer wackeln wir hinten mehr und mehr.
In der zweiten Halbzeit dreht sich mit immer mutigeren Japanern auch endgültig die Stimmung. Ausgerechnet Ritsu Doan, der einen großen Anteil am momentanen Erfolg des SC Freiburg hat, macht den Ausgleich. Und als Japan den Siegtreffer erzielt, jubelt ein Großteil des Stadions mit dem Underdog. Direkt neben mir feiern vier Jungs aus dem Libanon mit.
Klar, dass die Japaner nach diesem epochalen Sieg draußen feiern – und drinnen wieder aufräumen. Diesmal sind auch Al Jazeera und viele andere Fernsehsender dabei.
Und Mohammed Hassan Al Jefairi twittert nach dem Spiel über einem Hand-vorm-Mund-Bild unseres Teams: „Which team is this?“
Mal wieder dauert es lange, bis ich mich melde. Bitte entschuldigt – aber seit gut zwei Wochen plage ich mich damit herum, wie es weitergehen soll. Die Entscheidung, nicht in den Iran zu fahren, ist gefallen. Das Land hat seine Grenzen für Touristen nicht geschlossen . Aber das Internet wird immer wieder stark eingeschränkt – und meine Familie nicht verlässlich regelmäßig informieren zu können, wie es mir geht, ist undenkbar.
Ich bin nicht der einzige, der sich mir der Iran-Frage herumplagt. Eine ganze Menge Reisender ist hier in Armenien gestrandet. Aserbaidschan hat seine Landgrenzen derzeit für Touristen geschlossen, Syrien und der Irak sind keine Alternative. Vor drei Tagen habe ich ein Pärchen getroffen, das mit einem Landrover in die Mongolei will. Er ist Holländer, sie Deutsch-Amerikanerin – ein Visum für den Iran hat sie vor dem Beginn der Demonstrationen bereits ohne Probleme bekommen, aber nach Festnahmen von Ausländern fütchtet sie: „Ich wäre die Parade-Spionin.“
Einige Tage davor habe ich zwei Polinnen getroffen (siehe unten), die um die Welt trampen. Weil es hier nirgendwo ein sicheres Durchkommen gibt, machen sie jetzt einen ganz großen Satz und fliegen nach Südkorea.
Es gibt aber auch Traveller, die weiterhin in den Iran einreisen. „Du musst halt die großen Städte meiden“, meinte ein Franzose, der auch mit dem Rad unterwegs ist. Iran ohne Teheran, Isfahan, Schiras, Yazd – für mich macht das aber keinen Sinn.
Was jetzt? Die Reise, wie ich sie vorhatte – also: nach Katar zur Fußball-WM ohne Flugzeug – ist Geschichte. Das ist klar. Nach einigem Hin und Her habe ich auch die Idee fallengelassen, mitsamt Rad nach Abu Dhabi zu fliegen und dort weiter zu radeln.
Ich habe gestern (6.10.) den Flug von Tiflis nach Memmingen gebucht. Am 19. Oktober kommen ich nachhause. Für mich fühlt sich das gut an – ich habe ja sogar dank der vielen Unterstützung bereits mein Spendenziel erreicht. Vielen Dank! Natürlich dürft Ihr weiter spenden, gerade in diesen Zeiten können wir in Heggbach und an anderen Standorten der St. Elisabeth-Stiftung Unterstützung für Freizeitangebote für Menschen mit Behinderung brauchen.
Ich werde mich noch knapp zwei Wochen in Armenien und Georgien umsehen.
Womit wir beim Thema sind:
Das Chateau Iveri habe ich in einer wunderbaren Morgenstimmung verlassen (siehe links oben). Artur und Lena – das in Georgien urlaubende russische Pärchen aus dem letzten Blogeintrag – hatten mir noch einen Film von der georgisch-russischen Grenze geschickt. Kilometerlang sind sie an russischen Autos entlanggefahren, die für die Ausreise anstanden.
Für mich ging´s auf die Passstraße Richtung Khulo. Der Verkehr nahm mit jedem Höhenmeter ab und die Zahl der Kühe auf der Straße zu. Leider lag die Wettervorhersage genau richtig: Auf halber Strecke fing es an zu regnen. Kein Spaß, aber auch das muss man auf einer Radreise wohl mal mitgemacht haben.
Ich bin jedenfalls pitschnass – von innen und außen – irgendwann an meinem Ziel angekommen. Dort wartet ein Kuriosum: Eine kleine Seilbahn überspannt das Tal und führt auf der anderen Seite zu dem kleinen Bergdorf Tago. Eine Kabine, die gerade so groß ist, dass ich mein Rad mitnehmen konnte, ein Drahtseil, eine Tal- und eine Bergstation – das ist´s. Keine Masten unterwegs, keine Absicherung – eine ganz besondere Fahrt.
Mit mir in die Bahn waren Maria und Patrizia, die beiden Polinnen. Sie haben einige Wochen gegen Kost und Logis in einem abgelegenen Camp gearbeitet und sind dann weitergezogen. Per Anhalter um die Welt – das ist ihr Ziel mit quich.hiking. Die beiden spielen in ihrer Heimat im Verein quidditch, den Sport, den JK Rowling in Harry Potter erfunden hat – daher der ungewöhnliche Name ihres Projekts. Auch sie hatten von der kleinen Seilbahn gehört – und dem ungewöhnlichen Glampingplatz in Tago …
Glamping Tago ist tatsächlich außergewöhnlich – nicht nur wegen des Blicks aus dem Freiluft-Badezimmer. Jonas aus Belgien hat sich beim Reisen in den Platz verliebt und kurzerhand zugeschlagen. Nachvollziehbar: Sein Glamping liegt auf einem kleinen Plateau mit einem wunderbaren 270-Grad-Blick. Sonnenauf- und -untergang sind magisch, nachts ziehen Sterne über einen hinweg, die man bei uns zuhause niemals sehen würde.
Das Zentrum des Platzes bildet eine große Jurte, in der Frauen aus dem Dorf das Regiment haben und wunderbar für die Gäste kochen. Umgerechnet rund 30 € kostet die Nacht im großen Schlafsaal-Zelt inklusive Buffet zum Frühstück und zum Abendessen. Man kann auch ein eigenes Zelt mieten – das ist dann doch eine ganze Stange teurer.
Als sich nach zwei Tagen die Wolken verzogen, war ich einfach überwältigt. Man kann gar nicht anders.
Und ich habe wieder viel gelernt: Zum Beispiel, dass nicht nur Russen seit Beginn des Krieges ihr Land verlassen, sondern auch viele Weißrussen. Auch hier wieder die jungen, gut ausgebildeten Leute, die vom Ausland aus arbeiten können. Schon frustriert vom Wahlbetrug 2020, war für sie bei Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine das Maß voll, berichtet mir Daria, die mit ihrem Freund nach Batumi gezogen ist: „Unser Präsident sagt immer wieder, dass wir nicht mit Putin in diesen Krieg ziehen. Aus der Erfahrung wissen wir: Je öfter er das sagt, desto wahrscheinlicher ist, dass es am Ende doch anders kommt.“ Daria und ihr Freund sind nicht allein: „Minsk hatte über eine Million Einwohner – jetzt ist die Zahl unter eine Million gefallen“, meint sie.
Spannend sind auch Jonas´ Geschichten über die mühsame Entstehung des Zeltdorfs – er hat sich ohne jede Vorkenntnisse in das Projekt gestürzt. Im ersten Winter kam plötzlich der Anruf: „Die Jurte ist eingestürzt.“ Zu viel Schnee. Solche Rückschläge gab´s zuhauf – „wir müssen halt draus lernen“, meint Jonas, der dann selbst eine solide Holzkonstruktion für die neue Jurte entworfen hat. Gefühlt halb Tago arbeitet für ihn. Ganz klassisch: Die Frauen managen die Küche und die Reinigung, die Männer sind Handwerker, Fahrer und Rezeptionisten. Was ich besonders spannend fand: Die ganze Hardware – Planen, Zelte, Jurten, ein Großteil der Konstruktionen, die alles halten – hat sich Jonas aus dem Internet besorgt. Das Zauberwort ist die chinesische Plattform Alibaba. „Du musst nur bis zur letzten Naht ganz genau wissen, was Du willst – irgendjemand findet sich auf Alibaba, der das auf Basis Deiner Wünsche für Dich anfertigt.“
Jonas und seine Freundin sind auch begeisterte „Siedler-von-Catan“-Spieler. All mein Setzen auf Ontwikkelings-Karten hat nichts genutzt – Jonas hat gewonnen.
Mit das Beste auf Glamping Tago: Es gibt sogar kühles Bier vom Fass. Die Halbe für umgerechnet 1,80 € …
Jonas (links) spricht längst Georgisch mit seinem Team. Sehr schwer, von diesem wunderbaren Platz Abschied zu nehmen.
Die 1.600 Höhenmeter – es geht immer wieder rauf und runter – zum Goderdzi-Pass habe ich mir ehrlich gesagt mit Rad und meinem ganzen Gepäck nicht zugetraut. Ein Fahrer hat mich und mein Rad hinüber gebracht. Im Nachhinein eine sehr gute Entscheidung: Die Passstraße wird gerade von einer Dirt Road zu einer Teerstraße umgebaut – alle paar Hundert Meter sind Baustellen mit zum Teil für Räder unpassierbaren Stellen. Oben am Pass wurde ein Skizentrum gebaut, das dringend auf Anschluss an die Verkehrsinfrastruktur wartet. Auch hier bauen die unvermeidlichen Chinesen mit. Die neue Seidenstraße wird also auch durch den Südkaukausus führen.
Auf der anderen Seite des Gebirgskamms erwartete mich eine völlig andere Vegetation. Alles ist im Herbst braun, Ackerbau gibt es hier kaum – Hirten ziehen mit ihren Kuh-, Ziegen- oder Schafsherden über die kargen Berge. Lediglich um die Flüsse herum ist es noch grün.
Grün mögen es auch meine Gastgeber in der Nähe von Vardzia (siehe unten) – alles, was sie ihren Gästen zum Abendessen und zum Frühstück anbieten, kommt aus dem eigenen Garten. Hätte ich im fleischlastigen Georgien gar nicht erwartet: Zum zweiten Mal nach Glamping Tago esse ich vegetarisch.
Die Höhlenstadt Vardzia ist UNESCO-Weltkulturerbe. Sie wurde im 12. Jahrhundert in den Fels gebaut. Im Notfall konnten hier bis zu 50.000 (!) Menschen leben. Ein Erdbeben ließ einen großen Teil der Stadt einstürzen. Trotzdem kann man dort noch herumklettern und sich einen Eindruck vom Leben damals verschaffen. Ich bin hingewandert – György (gefühlt heißen die Hälfte der Männer in Georgien so) hat mich ein paar Kilometer in seinem abenteuerlichen Truck mitgenommen.
Warum diese unfertige Eisenbahnbrücke in meinem Blog vorkommt? Die Eisenbahn steht sinnbildlich für die politischen Probleme im Kaukasus. Aserbaidschan und Armenien stehen sich in der Auseinandersetzung um Bergkarabach spinnefeind gegenüber – abgesehen von den zwei großen Kriegen Anfang der 90er (Sieger: Armenien) und 2020 (Sieger: Aserbaidschan) kommt es immer wieder zu Schießereien an der Grenze. Russland, die Türkei und der Iran versuchen Einfluss zu gewinnen. Armenien hat nur offene Grenzen nach Georgien im Norden und Iran im Süden. Die Zugstrecke von Baku in Aserbaidschan nach Kars in der Osttürkei führt deshalb um Armenien herum durch Georgien.
Mitten im Off Südwestgeorgiens – wohl durchdacht in der Nähe der türkischen und der armenischen Grenze: Hotel und Casino „Las Vegas“. Die Idee, die in den letzten Jahren Batumi so verändert hat, funktioniert auch hier: Glückspiel. Ich habe dort übernachtet, das Casino war abends proppenvoll.
Ich war mit dem Rad auf einer Hochebene unterwegs, die Richtung armenische Grenze langsam um auf über 2.000 Meter ansteigt. Fast exakt auf dem höchsten Punkt liegt die Grenzstation. Unübersehbar ist, dass Georgien Armenien in den letzten Jahren wirtschaftlich abgehängt hat: Die gute Straße endet und mündet in eine Schlaglochpiste auf armenischer Seite – und plötzlich prägen russische Ladas und Wolgas das Straßenbild.
Die Landschaft bleibt herrlich. Ich bin kurz nach der Grenze zum Lake Arpi abgebogen, wo – auch mit deutscher Unterstützung – ein Nationalpark entstanden ist. Besonders attraktiv ist der See wohl im Frühjahr für Vogelliebhaber, aber auch im Herbst ist dieser entlegene Zipfel Erde – am Horizont beginnt die Türkei – sehenswert. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich an einem Ein-Mann-Militärposten angehalten und kontrolliert.
Abends werden Hunderte Schafe am See entlang in ihre Ställe getrieben. Die Schäfer halten Kangals zum Schutz ihrer Herden vor Raubtieren. In Georgien bin ich zweimal auf dem Rad von Wachhunden attackiert worden – ging glimpflich aus. Um die Reviere der wirklich Respekt einflößenden Kangals habe ich einen großen Bogen gemacht.
Am nächsten Tag stand die Königsetappe an. Über eine Sand- und Kiesstraße ging´s in ständigem Auf und Ab bis hinauf auf 2209 Meter. Der höchste Punkt meiner Reise.
Auffällig: Viele Armenier haben ihre Fahrzeuge auf Gas umgerüstet.
Die Landschaft Richtung Gyumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, ist der in Georgien ganz ähnlich,
Gyumri hat 1988 ein verheerendes Erdbeben erlebt. Bei der Einfahrt in die Stadt fährt man immer noch durch ein Trümmerfeld. Interessant: Vor allem die Plattenbauten aus der Sowjetzeit sind damals eingestürzt, die älteren Steinhäuser größtenteils nicht.
Ich war in Gyumri erst einmal wieder beim Barbier, dem ältesten Armeniens. Zuhause lege ich mit einem Elektrorasierer selbst Hand an, im Ausland gehe ich immer gerne zum Friseur. Zum Schluss gab´s sogar einen echten osteuropäischen Seitenscheitel.
Hier gibt es auch einen spannenden Künstler, der aus Patronenhülsen und anderem Kriegsgerät Schmuck herstellt. Und nicht nur das: Artak Tadevosyan (auf dem Bild mit einer seiner Töchter) bereitet gerade eine Ausstellung vor, die er in Washington DC und Los Angeles zeigen wird.
Gyumri hat viele Überraschungen zu bieten: Zum Beispiel Agerak, ein integratives Café, das mit Unterstützung der österreichischen Caritas entstanden ist. 16 Köpfe gehören zum Team, 8 davon haben ein Handicap. Lilit, Samuel, Hovhannes und all die anderen sind superfreundlich – und der Kaffee und die süßen Stückle superlecker. Das Café liegt genau gegenüber von meinem Hotel – natürlich war ich dort immer frühstücken.
In der Altstadt von Gyumri tut sich viel. Überall werden die schönen alten Häuser renoviert. Hotels, Restaurants und Läden ziehen ein.
Auch das Erbe des Sozialismus ist immer noch spür- und sichtbar.
Ich schwinge mich jetzt wieder auf´s Rad. Die letzten Etappen Richtung Eriwan stehen an.
"Der spinnt doch" - das war die spontane Reaktion meiner Frau, als sie von meiner Idee erfahren hat. Jetzt ist sie selbst ein Stück dabei: Ich fahre von Mitte Juli bis Mitte November 2022 mit dem Fahrrad von Ravensburg nach Katar und berichte hier von meinen Erlebnissen.