Kurz vor Weihnachten ein WM-Fazit:

Seit dem 22. Dezember bin ich wieder zuhause. Von 27 Grad und Dauersonnenschein mitten hinein ins schaurig schöne Schmuddelwetter-Weihnachtsfeeling in Deutschland.

Als ich in Doha abgeflogen bin, war die Party der Argentinier in vollem Gange. Und das war erst der Anfang, wie wir ja mittlerweile wissen. „Hier sind alle ganz verrückt!!!!“ hatte unsere Austauschschülerin Vicky noch aus Buenos Aires berichtet. Ihr Bruder war einer der fünf Millionen Menschen, die in Argentiniens Hauptstadt auf den Beinen gewesen sein sollen, um die Mannschaft zu feiern. Messi und Co. mussten dort vom Open-Air-Bus in Hubschrauber umsteigen, weil irgendwann nichts mehr ging und Fans sogar versuchten, von Brücken auf den Bus zu springen.

Das ist wirklich verrückt. Aber neidisch bin ich trotzdem. Fußball kann so viel bewegen: „Unser“ Weltmeistertitel 1990 nach dem Mauerfall, die EM 1996, die WM 2014 – ich habe miterlebt, wie es ist, gemeinsam mit Tausenden Menschen Titel zu feiern. Und ich erinnere mich mit Freude daran, welche Energie das Sommermärchen 2006 bei uns freigesetzt hat.

Davon sind wir eineinhalb Jahre vor der Europameisterschaft im eigenen Land Lichtjahre entfernt. Ich bin mit der Hoffnung nach Katar geflogen, dass das deutsche Team mit einer guten Leistung die Basis dafür legt, bei der EM wieder ganz vorne anzugreifen.

Dafür hätte die Mannschaft, die nicht mehr „die Mannschaft“ heißt aber als Mannschaft zusammenwachsen sollte, allerdings die volle Rückendeckung gebraucht. Zuhause und vor Ort. Ich hatte Lust dazu – und saß daher am 23. November zum ersten Mal in meinem Leben in vollem Ornat (deutsches Trikot am Körper und Schwarz-Rot-Gold auf dem Kopf) beim Spiel gegen Japan im Al-Thumama-Stadion. Aber ich war ziemlich allein.

In Deutschland tobte seit Monaten auf allen Kanälen die Debatte um das Turnier in Katar. Es ging um die FIFA, die Menschenrechte, die Ansetzung im Winter, Doha als Ausrichtungsort und vieles mehr. Die Konsequenz: Viele Menschen gingen innerlich ins Fußball-Exil. Nur wenige deutsche Fans machten sich auf den Weg nach Doha.

Und unsere Kicker wurden in eine Rolle gedrängt, für die sie ganz offenbar nicht geschaffen sind. Gefestigtere Mannschaften wie Frankreich oder England konnten sich von der Diskussion freimachen. Die deutsche nicht.

Im Stadion bekamen wir erst nach und nach über die sozialen Medien mit, dass unsere Innenministerin mit der One-Love-Binde auf der Ehrentribüne saß und die Spieler sich beim Mannschaftsfoto die Hand vor den Mund hielten. Und erst viel später erfuhren wir davon, dass der Großteil des Teams wohl intern zu dieser Geste gedrängt werden musste.

Was wir sahen, war eine Mannschaft, die aus einer Unmenge Torchancen nur einen Elfmetertreffer machte und später nicht in der Lage war, mit einem Gegentreffer umzugehen. Noch viel eindrücklicher war für mich aber das dritte Spiel: Gnabry und die anderen spielten Costa Rica zehn Minuten lang an die Wand – einen kurzen Moment dachte ich, dass sich das Team jetzt mit einer großartigen Leistung am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Stattdessen stellten die Jungs nach dem 1:0 das Spielen ein.

Die Mannschaft schied in der schwächsten Gruppe aus (aus jeder anderen Gruppe erreichte mindestens ein Team wenigstens das Viertelfinale). Die Führungsspieler sind in der Krise – siehe Kimmich und Müller. Und der DFB ist einmal mehr unter Attacke. Autsch.

Irgendwie kopflos: Die deutschen Spieler in der Krise.

Die Menschen, mit denen wir in Doha ins Gespräch gekommen sind, wirkten allesamt irritiert. Deutschland sportlich so schwach – das ist in der internationalen Fußball-Welt einfach ungewohnt.

Ich muss hier wieder einmal auf die Südasiaten zu sprechen kommen, die den größten Teil der Bevölkerung von Katar stellen: Für mich war es völlig neu, wie viele Fans die deutsche Mannschaft außerhalb von Deutschland hat. Aber klar: Weil ihre eigenen Teams unter ferner Liefen rangieren, suchen sich die Menschen bei Weltmeisterschaften andere Mannschaften zum Anfeuern. Ich habe gelernt, dass in Bangladesch zum Beispiel Deutschland die Nummer drei in der Beliebtheit hinter Argentinien und Brasilien ist.

Bestenfalls irritiert waren die Menschen auch über die Hand-vor-dem-Mund-Geste vor dem Japan-Spiel, über die One-Love-Binde und die Attacken gegen Katar insgesamt. Viele haben das alles als klaren Affront wahrgenommen. Dinge zu erklären, war angesichts von Sprachbarriere und völlig unterschiedlichem Hintergrund fast immer aussichtslos.

Wo eine tiefergehende Diskussion möglich war, sind wir stets bei dem Vorwurf der Doppelmoral hängengeblieben. Ganz konkret: Die Deutschen betteln geradezu um Gas aus Katar, die Kataris sollen deutsche Autos kaufen, deutsche Vereine kommen ins Wintertrainingslager nach Doha – da sind Menschenrechte offenbar nicht relevant. Warum soll Katar dann keine Fußball-WM ausrichten dürfen? Ich wusste hier nicht wirklich eine Antwort.

Keine Frage: Wenn die Kosten für die WM tatsächlich auch nur annähernd die kolportierten 200 Milliarden betragen haben, ist das eine gigantische Verschwendung – auch wenn man die Kosten für sinnvolle Investitionen wie zum Beispiel die Metro abzieht. Wir konnten vor Ort sehen, wo das Geld verbuddelt ist: Dass jetzt zum Beispiel acht Fußballstadien in Doha stehen, ist natürlich Wahnsinn. In einer Demokratie wäre so etwas wohl undenkbar. Die Diktatur macht´s möglich.

Aber ob Verschwendung als Kriterium bei der Vergabe einer WM taugt? Dann müsste sich die FIFA sowieso als erstes selbst abschaffen. Wer mal vor dem FIFA Headquarter in Zürich stand, weiß, was ich meine. And the winner is … FIFA. Auch nach diesem Turnier besteht keine Gefahr, dass sich Gianni und Konsorten ihre Stammkneipe Baur au Lac (Doppelzimmer ab knapp 1.000 Euro) nicht mehr leisten können.

Im FIFA-Fanshop auf dem Fanfestival war der Umsatz jeden Tag enorm.

Die Diktatur macht auch vollklimatisierte Fußballstadien möglich. Für die WM war das allerdings komplett überflüssig. Durch die Verlegung in den Winter war das Wetter optimal: Praktisch nie über 30, selten unter 20 Grad – perfektes Fußballwetter, ich war fast immer im T-Shirt unterwegs. Apropos: Für mich taugt das Winter-Argument gegen die WM in Katar nicht. Die Argentinier haben ein Riesenspaß daran, ihren Titel in ihrem Sommer zu feiern. Warum sollte das uns auf der Nordhalbkugel vorbehalten sein? Und angesichts des Klimawandels stellt sich sowieso die Frage, wann wir selbst die WM in den Winter verlegen müssen.

Wo wir beim Klimawandel sind: Ich habe niemanden getroffen, der an die Mär von der klimaneutralen WM in Katar glaubt. Es wird aber wohl einzigartig bleiben, dass die Wege so kurz sind und fast alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar war. Auf dem Fanfestival habe ich Mateusz, einen polnischen Studenten getroffen. Sein Projekt: Selfies vor allen WM-Stadien an einem Tag. „Locker geschafft, mit der Metro kein Problem“, meinte er. Und es gab tatsächlich Fans, die zwei Spiele an einem Tag gesehen haben.

Apropos Fans: Der Sieg der Saudi-Arabier gegen Argentinien markierte den Beginn einer großen Euphorie in der arabischen Fußballwelt, die Marokko bis ins Halbfinale getragen hat. Ich hatte das Vergnügen, den Sieg der Marokkaner gegen Belgien im Stadion zu sehen. Spielerisch und akustisch ein Erlebnis, das mir in Erinnerung bleiben wird.

Achtung: Die Araber kommen!

In Erinnerung bleiben wird mir auch „Metro – this way“. Freundliche Menschen haben uns mit diesen Worten Tag für Tag den Weg zur nächsten Metro-Station gewiesen. Viele von ihnen waren Männer aus Schwarzafrika. Ich weiß, klingt wie ein billiges Klischee: Aber sie haben Musik und Tanz im Blut. Bloß „Metro – this way“ ins Megafon sagen und mit einer überdimensionalen Plastikhand in die richtige Richtung weisen, war ihnen schnell zu langweilig. Wir haben viele lustige Interpretationen gehört – bis hin zu selbst getexteten Raps und kompletten Tanzchoreografien. Der „Metroman“ war schon nach wenigen Tagen in den sozialen Medien eine Berühmtheit.

Das ist aber nichts gegen das, was die argentinische Mannschaft erwartet. Für die Spieler gibt´s zwar keinen Rolls Royce wie für die Sieger-Besieger aus Saudi-Arabien, dafür aber ewigen Ruhm. Messi steht schon auf einer Stufe mit dem Heiligen Diego. Und wie die Saudis nach ihrem historischen Sieg haben auch die Argentinier nach dem WM-Titel ihren Feiertag bekommen.

Wie das anders gehen könnte, versteht sowieso niemand. Dr. Shiban Khan, in Bangladesch geborene und in der Schweiz studierte Professorin in Doha, lebte 2014 in Deutschland. Sie schüttelt immer noch ungläubig den Kopf über die merkwürdigen Deutschen: „Ihr werdet den Weltmeister – und am nächsten Tag geht ihr arbeiten. Wie ist das möglich?“