Von unserem Appartement blicken wir über einen Highway hinweg direkt auf die Poolanlage eines der Hilton-Hotels von Doha. Hier ist ein Riesen-Bildschirm aufgebaut, auf dem alle Spiele gezeigt werden – und zwei bis dreimal pro Woche wummern bis tief in die Nacht hinein die Bässe bei Pool-Parties.
Es ist die Nacht vor dem Viertelfinale der Argentinier gegen die Niederlande. Das Management des Hotels ist nicht auf den Kopf gefallen: natürlich ist Latino-Party. Bei den Alkohol-Regeln blicke ich noch nicht ganz durch, vor der WM durften die großen Hotels jedenfalls Bier und Co. an internationale Gäste ausschenken. Ob das im Hilton jetzt immer noch so ist, kann ich aus der Ferne nicht erkennen. Was ich aber sehen (und hören!) kann: Die Stimmung ist ausgelassen.
Als der DJ gegen 2.30 Uhr endlich den Stecker zieht, hoffe ich auf eine Mütze Schlaf. Pech gehabt: Die Argentinier singen einfach weiter! Fast eine Stunde geht das noch so. Es sind ihre WM-Songs – in Dauerschleife. Einer davon ist „Argentina naci“, der ihren Gefühlszustand nach vielen verlorenen Finals und dem Tod von Maradona auf den Punkt bringt.
En Argentina nací
tierra de Diego y Lionel
de los pibes de Malvinas que jamás olvidaré.
No te lo puedo explicar
porque no vas a entender
las finales que perdimos, cuántos años las lloré.
Pero eso se terminó
porque en el Maracaná
la final con los brazucas la volvió a ganar papá…
Muchachos, ahora nos volvimos a ilusionar
quiero ganar la tercera, quiero ser campeón mundial
y al Diego, en el cielo lo podemos ver
con don Diego y con la Tota, alentándolo a Lionel.
Übersetzt: „In Argentinien bin ich geboren, dem Land von Diego und Lionel, von den Leuten auf den Malvinas, die ich niemals vergessen werde. Ich kann es nicht erklären, du wirst es nicht verstehen. Die Endspiele, die wir verloren haben, die vielen Jahre, in denen ich geweint habe. Aber das ist jetzt vorbei, weil Papa im Maracanã das Finale gegen die Brasilianer gewonnen hat. Jungs! Jetzt träumen wir wieder, ich will den dritten Stern, will Weltmeister werden. Und Diego können wir im Himmel sehen, wie er mit Don Diego und La Tota (Maradonas Vater und Mutter) Lionel anfeuert.“
Leider habe ich es nicht geschafft, ein Ticket für ein Argentinienspiel zu ergattern. Für Gänsehaut-Feeling reicht aber auch ein Besuch der Metro in Doha, wenn die Argentinier vorbeikommen. Wahlweise auch hier, wenn sich die Nationalmannschaft selbst versucht. Oder eben nachts um 3 Uhr, wenn ein paar Hundert Blau-Weiße auf der anderen Straßenseite nicht genug bekommen können.
Was ins Auge sticht: Die Argentinier haben eine riesige Fangemeinde weit über die Grenzen ihres Landes hinaus. Ihr Superstar Lionel Messi ist ein Grund dafür.

Aber nicht nur.
Ich habe hier Dr. Shiban Khan kennengelernt, sie ist eine Freundin unserer Gastgeberin. Dr. Khan hat in St. Gallen Wirtschaft studiert und ist zurzeit Assistent Professor an der University of Doha for Science & Technology.
Geboren ist sie in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Und sie konnte mir erklären, warum in ihrem Heimatland zurzeit viele blau-weiße Fahnen wehen. „Die erste Fußball-Weltmeisterschaft, die in Bangladesch im Massenfernsehen zu sehen war, war die in Mexiko 1986“, berichtet sie. Fußballfans kennen die Geschichte vom Spiel der Argentinier gegen England: Diego Maradona traf zuerst mit der „Hand Gottes“ und später mit dem Tor des Jahrhunderts nach seinem unvergleichlichen Solo. Für die Argentinier hatte der Sieg vier Jahre nach dem verlorenen Falklandkrieg eine besondere Bedeutung, Und die Menschen in Bangladesch waren Maradonas Magie und seinem Team verfallen.
Argentinien wurde Weltmeister – und die Basis war gelegt für eine Fanfreundschaft, die bis heute währt. Und bisweilen skurrile Blüten treibt: Weil es auf Facebook so viel Unterstützung aus Bangladesch für Argentiniens Fußballteam gibt, gründete der Argentinier Dan Lande die Facebook-Gruppe „fans argentinos de la seleccion der cricket de Bangladesh„, die innerhalb von kurzer Zeit über 175.000 Follower ergatterte. Im Fußball rangiert Bangladesch unter ferner liefen, im Cricket gehört das Nationalteam aber zu den Top Ten der Welt. „Wir haben hier in Argentinien wirklich keine Ahnung von Cricket“, gab Lande allerdings freimütig zu – mit der Folge, dass die Menschen aus Bangladesch jede Menge Cricket-Tutorials auf seiner Seite zur Verfügung stellen …
Shiban Khan wurde selbst mit Fußball groß: „Wenn die wichtigen Spiele in Europa stattfinden, ist es ja bei uns in Bangladesch mitten in der Nacht“, erzählt sie. „Aber mein Vater ist mit uns aufgeblieben und hat uns geduldig alles rund um Fußball erklärt.“ Das hatte Folgen: Shiban ist dem Fußball verfallen und doziert im Gespräch mit Freude über taktische Feinheiten – mir zum Beispiel vor dem Spiel zwischen Frankreich und England.
Argentinien-Fan ist sie indessen nicht geworden – sie hat einen Narren an Deutschland und Jürgen Klinsmann gefressen. Der Grund: „Meine erste WM war 1990.“ Mittlerweile hat sie einen Deutschen geheiratet und nach dem Studium in der Schweiz mehrere Jahre zwischen Frankfurt und Wiesbaden gelebt. Sie hat dort ihre Kinder bekommen und viel Lob übrig über das deutsche Betreuungs- und Bildungssystem – von den Tagesmüttern bis zu den kostenfreien Universitäten. Hier in Doha gehen alle drei Kinder in die deutsche Schule.

Bei der WM hat diese Liebe allerdings Risse bekommen. Nach einem kritischen Facebook-Beitrag zur Hand-vor-den-Mund-Geste des Deutschen Teams beim Japan-Spiel bat sie die Dhaka Tribune, ihren Standpunkt zu erläutern. Das hat sie in einem Artikel getan und dargelegt, warum sie die Geste heuchlerisch fand. Spannende Lektüre!

Das deutsche Boot ist hier in Doha zwar nicht untergegangen, aber es musste ziemlich früh die Segel streichen. Jeden Tag zieht eine Dhau-Parade mit den Teams durch die Bucht, die noch im Wettbewerb sind.
Nettes Gimmick! Ansonsten heißt es hier in Doha aber: Klotzen statt Kleckern!
Der zentrale der fünf Bildschirme auf dem Fanfestival hat gigantische Ausmaße. Mit ihm die Subwoofer: Wenn mal eben Calvin Harris zwischen zwei Viertelfinals gratis auftritt, bringen die Bässe Fish & Chips im Magen kräftig in Unordnung.
An vielen Orten stehen riesige Screens für Public Viewing.

Ein Feuerwerk gibt es nicht bei Eröffnung und Abschluss, sondern einfach jeden Tag – inklusive einer Show mit Hunderten Licht-Drohnen, die wahlweise einen Fußballer oder „Welcome to Qatar“ an den Himmel zaubern.

Irgendwie sind alle ein wenig verrückt hier. Im Speziellen derzeit die Argentinier und natürlich die Marokkaner, aber eben auch die Kataris ganz allgemein.
Bescheidenheit ist nicht die Sache der Herrscher über diesen Wüstenstaat, der quasi über Nacht zu unermesslichem Reichtum gekommen ist.
Ganz Doha kommt mir bisweilen vor wie ein Disneyland, bei dessen Bau der Chef dem Controlling freigegeben hat.
Ich brauche nur nachts aus dem Fenster zu schauen:

Daheim versuchen wir Energie zu sparen – im Land des Überflusses hat jedes Hochhaus-Stockwerk sein Neon-Lichterband.
In Laufentfernung liegt das italienische Viertel – inklusive florentinischer Porto-Vecchio-Kopie. Jeden Abend gibt es hier eine venezianische Bootsparade zu Verdi und Techno.

Für mich gruseliger Kitsch, aber die Leute lieben es. Und wenn Geld keine Rolle spielt, …

… dann verursacht selbst die auf 70-Millionen Euro geschätzte Jacht Attila des argentinischen Millionärs Maurizio Filiberti im Hafen keinen Auflauf.
Hinter dem Haus, in dem unsere Gastgeberin im 16. Stock ihr Appartement hat, hat am Jachtclub ein Floß aus Dubai mit einem Lamborghini-Shop festgemacht.

Für unsereins nur noch skurril: Die Ausgeh-Meile Lusail Boulevard ist klimatisiert. Aus den schwarzen Schächten strömt einem beim Vorbeiflanieren eiskalte Luft entgegen. Aber bei Sommertemperaturen von bis zu 50 Grad und gleichzeitig Energie im Überfluss …

Ich könnte jetzt noch eine Weile weitermachen mit Luxus und Verschwendung. Und müsste mir dann wahrscheinlich Dinge anhören wie: „Ihr lebt doch auch in viel zu großen Häusern und heizt die im Winter auf 23 Grad, wo 19 Grad reichen würden.“
Also belasse ich´s dabei.
Herausgekommen bei all dem Gigantismus ist ja zum Teil auch wirklich spannende Architektur wie zum Beispiel der Bau des Nationalmuseums, das Architekt Jean Nouvel einer Sandrose – eine Sandkristallformation, die auch in Katar vorkommt – nachempfunden hat.

Hier haben wir im Museumscafé einen Mann getroffen, dessen Stimme mit dem letzten großen Erfolg unserer Nationalmannschaft für viele untrennbar verbunden ist. „Mach ihn! Er macht ihn!“ In einer Ecke des Cafés saß tatsächlich ARD-Reporter Tom Bartels und bastelte an einem Text. Ein sympathischer Mensch, der uns gleichzeitig Respekt abnötigte: Er kommentierte nämlich von hier aus den Skisprung-Weltcup im kalten Titisee und den heißen Kampf zwischen Argentinien und den Niederlanden im Viertelfinale der WM.

So habe ich auch meinen Übergang 🙂
Nach dem Sieg der Albiceleste gegen Oranje poppt in unserer privaten Argentinien-Whatsapp-Gruppe eine Nachricht von Vicky auf. Sie war kurz vor Corona zwei Monate lang als Austauschschülerin bei uns zu Gast – meine Tochter Katharina reist Anfang Januar 2023 endlich zum Gegenbesuch zu ihr nach Buenos Aires.
Mit der schnöden Nachricht „Mein Viertel“ und einem Ach-Du-Lieber-Gott-Smilie schickt sie ein Video von einer Hundertschaft Halbnackter, die vor ihrem Haus durch die Straßen springen – und natürlich singen.
Kurz darauf blinkt es wieder auf meinem Bildschirm. „Sie sind verrückt“, schreibt Vicky. „Und es war erst das Viertelfinale.“
Schreibe einen Kommentar