Mit dem Rad zur Fuball-WM in Katar

Monat: Dezember 2022

And the winner is … FIFA?

Kurz vor Weihnachten ein WM-Fazit:

Seit dem 22. Dezember bin ich wieder zuhause. Von 27 Grad und Dauersonnenschein mitten hinein ins schaurig schöne Schmuddelwetter-Weihnachtsfeeling in Deutschland.

Als ich in Doha abgeflogen bin, war die Party der Argentinier in vollem Gange. Und das war erst der Anfang, wie wir ja mittlerweile wissen. „Hier sind alle ganz verrückt!!!!“ hatte unsere Austauschschülerin Vicky noch aus Buenos Aires berichtet. Ihr Bruder war einer der fünf Millionen Menschen, die in Argentiniens Hauptstadt auf den Beinen gewesen sein sollen, um die Mannschaft zu feiern. Messi und Co. mussten dort vom Open-Air-Bus in Hubschrauber umsteigen, weil irgendwann nichts mehr ging und Fans sogar versuchten, von Brücken auf den Bus zu springen.

Das ist wirklich verrückt. Aber neidisch bin ich trotzdem. Fußball kann so viel bewegen: „Unser“ Weltmeistertitel 1990 nach dem Mauerfall, die EM 1996, die WM 2014 – ich habe miterlebt, wie es ist, gemeinsam mit Tausenden Menschen Titel zu feiern. Und ich erinnere mich mit Freude daran, welche Energie das Sommermärchen 2006 bei uns freigesetzt hat.

Davon sind wir eineinhalb Jahre vor der Europameisterschaft im eigenen Land Lichtjahre entfernt. Ich bin mit der Hoffnung nach Katar geflogen, dass das deutsche Team mit einer guten Leistung die Basis dafür legt, bei der EM wieder ganz vorne anzugreifen.

Dafür hätte die Mannschaft, die nicht mehr „die Mannschaft“ heißt aber als Mannschaft zusammenwachsen sollte, allerdings die volle Rückendeckung gebraucht. Zuhause und vor Ort. Ich hatte Lust dazu – und saß daher am 23. November zum ersten Mal in meinem Leben in vollem Ornat (deutsches Trikot am Körper und Schwarz-Rot-Gold auf dem Kopf) beim Spiel gegen Japan im Al-Thumama-Stadion. Aber ich war ziemlich allein.

In Deutschland tobte seit Monaten auf allen Kanälen die Debatte um das Turnier in Katar. Es ging um die FIFA, die Menschenrechte, die Ansetzung im Winter, Doha als Ausrichtungsort und vieles mehr. Die Konsequenz: Viele Menschen gingen innerlich ins Fußball-Exil. Nur wenige deutsche Fans machten sich auf den Weg nach Doha.

Und unsere Kicker wurden in eine Rolle gedrängt, für die sie ganz offenbar nicht geschaffen sind. Gefestigtere Mannschaften wie Frankreich oder England konnten sich von der Diskussion freimachen. Die deutsche nicht.

Im Stadion bekamen wir erst nach und nach über die sozialen Medien mit, dass unsere Innenministerin mit der One-Love-Binde auf der Ehrentribüne saß und die Spieler sich beim Mannschaftsfoto die Hand vor den Mund hielten. Und erst viel später erfuhren wir davon, dass der Großteil des Teams wohl intern zu dieser Geste gedrängt werden musste.

Was wir sahen, war eine Mannschaft, die aus einer Unmenge Torchancen nur einen Elfmetertreffer machte und später nicht in der Lage war, mit einem Gegentreffer umzugehen. Noch viel eindrücklicher war für mich aber das dritte Spiel: Gnabry und die anderen spielten Costa Rica zehn Minuten lang an die Wand – einen kurzen Moment dachte ich, dass sich das Team jetzt mit einer großartigen Leistung am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Stattdessen stellten die Jungs nach dem 1:0 das Spielen ein.

Die Mannschaft schied in der schwächsten Gruppe aus (aus jeder anderen Gruppe erreichte mindestens ein Team wenigstens das Viertelfinale). Die Führungsspieler sind in der Krise – siehe Kimmich und Müller. Und der DFB ist einmal mehr unter Attacke. Autsch.

Irgendwie kopflos: Die deutschen Spieler in der Krise.

Die Menschen, mit denen wir in Doha ins Gespräch gekommen sind, wirkten allesamt irritiert. Deutschland sportlich so schwach – das ist in der internationalen Fußball-Welt einfach ungewohnt.

Ich muss hier wieder einmal auf die Südasiaten zu sprechen kommen, die den größten Teil der Bevölkerung von Katar stellen: Für mich war es völlig neu, wie viele Fans die deutsche Mannschaft außerhalb von Deutschland hat. Aber klar: Weil ihre eigenen Teams unter ferner Liefen rangieren, suchen sich die Menschen bei Weltmeisterschaften andere Mannschaften zum Anfeuern. Ich habe gelernt, dass in Bangladesch zum Beispiel Deutschland die Nummer drei in der Beliebtheit hinter Argentinien und Brasilien ist.

Bestenfalls irritiert waren die Menschen auch über die Hand-vor-dem-Mund-Geste vor dem Japan-Spiel, über die One-Love-Binde und die Attacken gegen Katar insgesamt. Viele haben das alles als klaren Affront wahrgenommen. Dinge zu erklären, war angesichts von Sprachbarriere und völlig unterschiedlichem Hintergrund fast immer aussichtslos.

Wo eine tiefergehende Diskussion möglich war, sind wir stets bei dem Vorwurf der Doppelmoral hängengeblieben. Ganz konkret: Die Deutschen betteln geradezu um Gas aus Katar, die Kataris sollen deutsche Autos kaufen, deutsche Vereine kommen ins Wintertrainingslager nach Doha – da sind Menschenrechte offenbar nicht relevant. Warum soll Katar dann keine Fußball-WM ausrichten dürfen? Ich wusste hier nicht wirklich eine Antwort.

Keine Frage: Wenn die Kosten für die WM tatsächlich auch nur annähernd die kolportierten 200 Milliarden betragen haben, ist das eine gigantische Verschwendung – auch wenn man die Kosten für sinnvolle Investitionen wie zum Beispiel die Metro abzieht. Wir konnten vor Ort sehen, wo das Geld verbuddelt ist: Dass jetzt zum Beispiel acht Fußballstadien in Doha stehen, ist natürlich Wahnsinn. In einer Demokratie wäre so etwas wohl undenkbar. Die Diktatur macht´s möglich.

Aber ob Verschwendung als Kriterium bei der Vergabe einer WM taugt? Dann müsste sich die FIFA sowieso als erstes selbst abschaffen. Wer mal vor dem FIFA Headquarter in Zürich stand, weiß, was ich meine. And the winner is … FIFA. Auch nach diesem Turnier besteht keine Gefahr, dass sich Gianni und Konsorten ihre Stammkneipe Baur au Lac (Doppelzimmer ab knapp 1.000 Euro) nicht mehr leisten können.

Im FIFA-Fanshop auf dem Fanfestival war der Umsatz jeden Tag enorm.

Die Diktatur macht auch vollklimatisierte Fußballstadien möglich. Für die WM war das allerdings komplett überflüssig. Durch die Verlegung in den Winter war das Wetter optimal: Praktisch nie über 30, selten unter 20 Grad – perfektes Fußballwetter, ich war fast immer im T-Shirt unterwegs. Apropos: Für mich taugt das Winter-Argument gegen die WM in Katar nicht. Die Argentinier haben ein Riesenspaß daran, ihren Titel in ihrem Sommer zu feiern. Warum sollte das uns auf der Nordhalbkugel vorbehalten sein? Und angesichts des Klimawandels stellt sich sowieso die Frage, wann wir selbst die WM in den Winter verlegen müssen.

Wo wir beim Klimawandel sind: Ich habe niemanden getroffen, der an die Mär von der klimaneutralen WM in Katar glaubt. Es wird aber wohl einzigartig bleiben, dass die Wege so kurz sind und fast alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar war. Auf dem Fanfestival habe ich Mateusz, einen polnischen Studenten getroffen. Sein Projekt: Selfies vor allen WM-Stadien an einem Tag. „Locker geschafft, mit der Metro kein Problem“, meinte er. Und es gab tatsächlich Fans, die zwei Spiele an einem Tag gesehen haben.

Apropos Fans: Der Sieg der Saudi-Arabier gegen Argentinien markierte den Beginn einer großen Euphorie in der arabischen Fußballwelt, die Marokko bis ins Halbfinale getragen hat. Ich hatte das Vergnügen, den Sieg der Marokkaner gegen Belgien im Stadion zu sehen. Spielerisch und akustisch ein Erlebnis, das mir in Erinnerung bleiben wird.

Achtung: Die Araber kommen!

In Erinnerung bleiben wird mir auch „Metro – this way“. Freundliche Menschen haben uns mit diesen Worten Tag für Tag den Weg zur nächsten Metro-Station gewiesen. Viele von ihnen waren Männer aus Schwarzafrika. Ich weiß, klingt wie ein billiges Klischee: Aber sie haben Musik und Tanz im Blut. Bloß „Metro – this way“ ins Megafon sagen und mit einer überdimensionalen Plastikhand in die richtige Richtung weisen, war ihnen schnell zu langweilig. Wir haben viele lustige Interpretationen gehört – bis hin zu selbst getexteten Raps und kompletten Tanzchoreografien. Der „Metroman“ war schon nach wenigen Tagen in den sozialen Medien eine Berühmtheit.

Das ist aber nichts gegen das, was die argentinische Mannschaft erwartet. Für die Spieler gibt´s zwar keinen Rolls Royce wie für die Sieger-Besieger aus Saudi-Arabien, dafür aber ewigen Ruhm. Messi steht schon auf einer Stufe mit dem Heiligen Diego. Und wie die Saudis nach ihrem historischen Sieg haben auch die Argentinier nach dem WM-Titel ihren Feiertag bekommen.

Wie das anders gehen könnte, versteht sowieso niemand. Dr. Shiban Khan, in Bangladesch geborene und in der Schweiz studierte Professorin in Doha, lebte 2014 in Deutschland. Sie schüttelt immer noch ungläubig den Kopf über die merkwürdigen Deutschen: „Ihr werdet den Weltmeister – und am nächsten Tag geht ihr arbeiten. Wie ist das möglich?“

„Christmas only Video-Call“

+++ Weil ich diesen Beitrag in Hektik geschrieben hatte, gibt´s hier eine am Finaltag geschriebene und am 22,12 online gestellte, verbesserte und erweiterte Version. +++

Ich komme gerade vom Finale schauen. Das Amphitheater in Porto Arabia war leider schon zwei Stunden vor Anpfiff proppenvoll, wir haben nebenan gerade noch einen Tisch bei einem Italiener bekommen. 

Was es über das Spiel zu sagen gibt? Einfach grandios. Wer den Boykott daheim bis jetzt durchgehalten und lieber Bobfahren geschaut oder mit der Familie Memory gespielt hat: alle Achtung – aber Pech gehabt! Für mich war dieses Duell der Giganten zwischen Messi und Mbappé eines der besten Endspiele, die ich je gesehen habe. 

„Deux Cappuccinos et deux croissants s’il vous plaît“ – am Morgen des Finales waren wir noch zum Frühstück bei „Paul“. Das ist ein In-Franzose hier in „The Pearl“, wo unsere Gastgeberin ihr Appartement hat. Wir waren da aus Solidarität mit den wenigen, die die Tricolore in Doha hochhalten. 

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Geholfen hat´s bekanntlich nichts. Die Muchachos aus Argentinien sind hier auch ganz klar in der Überzahl. Alleine Samstag und Sonntag sollen Gerüchten zufolge noch einmal 40.000 eingeflogen sein. Viele ohne Tickets. Pech für uns: Die ganze Nacht vor dem Finale war wieder Party im Hilton bei uns gegenüber. Und im Souk gab´s kaum mehr ein Durchkommen. Wenn es nach Anzahl und Lautstärke der Fans ginge, hätte Frankreich ein Debakel erlebt. 

Im Souk Waqif im Herzen Dohas hatte ich aber auch ein ganz anderes Erlebnis: 

„You here for FIFA?“ Mittlerweile weiß ich: Das ist keine Frage, ob ich einer von Giannis Schergen bin. Die Frage bedeutet schlicht: Bist Du hier, um die Fußball-Weltmeisterschaft anzuschauen? Sie folgt in der Regel direkt auf „where are you from?“ 

Diesmal bekomme ich die Frage von Kris gestellt. Kris ist gerade so groß wie ich – wenn ich sitze. Sie steckt voller Energie und arbeitet in einem Restaurant, das zu einem günstigen Preis Falafel anbietet. Als sie mir und Andrea die wunderbaren Bällchen aus Kichererbsen mit Brot, Hummus und Gemüse auf den Tisch stellt, kommt sie kurz mit uns ins Gespräch. 

Sie zeigt uns Fotos von ihren beiden Kindern. Wir berichten, wie lange wir in Doha sind (vier Wochen), wo wir wohnen (bei Freunden), wie wir Katar finden (manches gut, anderes nicht) – und wir erzählen, dass wir jetzt nachhause fliegen, um mit unserer Familie Weihnachten zu feiern. 

Kris wird ernst: „Ich bin auch Christin“, sagt sie in ihrem gebrochenen Englisch. „Ich bin jetzt vier Jahre und sieben Monate hier in Doha – seitdem habe ich meine Kinder nicht gesehen. Christmas only Video Call.“ 

So einen Satz muss man erst einmal verdauen. Natürlich haben wir von dem viel kritisierten Kafala-System gelesen, das viele Arbeits-Migranten hier in Katar quasi zu Leibeigenen gemacht hat. Obwohl es offiziell abgeschafft ist, soll es unter der Hand weiterexistieren. 

Gibt es keine Möglichkeit für eine Heimreise? „Doch“, sagt Kris. „Aber ich will hart arbeiten, damit meine Kinder eine gute Schule besuchen können.“ Die beiden sind 11 und 7 Jahre alt und wachsen bei Kris´ älterer Schwester auf. „Sie fragen immer, wann ich komme. Vielleicht schaffe ich es nächstes Jahr genügend Geld zu sparen, um nachhause fliegen zu können.“ 

Kris weint nicht, Kris klagt nicht. Sie sagt einfach, wie es ist. Und sie ist mit ihrer Geschichte hier in Doha beileibe nicht alleine. Das Heer der einfachen Gastarbeiter ist riesig.  

Wir begegnen ihnen überall: Zu Tausenden als Security-Personal und Helfer an den Stadien, U-Bahn-Stationen oder auf dem Fanfestival. Immer freundlich, immer hilfsbereit – und wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, immer dankbar, dass viele Menschen zur WM nach Katar gekommen sind. „Metro – this way“ ist hier in Doha schon zum geflügelten Wort geworden.  

„Metro – this way“ ist hier in Doha schon zum geflügelten Wort geworden.

Vielen Frauen – meistens von den Philippinen – sehen wir beim Familienausflug als Kindermädchen und Haushaltshilfe. Sie tragen vollverschleierten Damen die Einkäufe hinterher. Sie warten in Reihen, bis die lieben Kleinen fertig sind mit Kindergeburtstag. Oder sie sitzen geduldig da, bis das Hundi beim Gassi sein Kacki gemacht hat. 

Unzähligen Männern begegnen wir beim Public Viewing: Ganz am Ende der Corniche – der für die WM aufgepeppten kilometerlangen Uferpromenade – steht ein riesiger Wide Screen, auf dem den ganzen Tag Werbung gezeigt wird. Hier laufen aber auch die Spiele. Wir waren zweimal dort – und hatten beide Male das gleiche Erlebnis: Noch zehn Minuten vor Anpfiff ist kaum etwas los – aber ein paar Minuten später sitzen wir plötzlich zwischen mehreren Tausend Männern aus Südasien.  

Rundum sind Essensstände aufgebaut, zu verdienen gibt es für die Betreiber allerdings kaum etwas. Der Eismann bimmelt fast schon flehentlich, aber vergeblich. Denn die, die da lagern, sind fast ausnahmslos Arbeiter. Sie bekommen Kost und Logis gestellt – ihren Lohn schicken sie nachhause. Oder sie sparen eisern, um irgendwann heiraten zu können – so hat es mir zumindest Amit von sich erzählt, der Taxifahrer aus Nepal, der mich an meinem ersten Tag vom Flughafen zum Hotel gefahren hat. 

Ein Mindestlohn von unter 300 Euro macht betroffen. Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht: Dieses System ernährt Hunderttausende Familien. Und der Ägypter Mustafa, den ich bei meinem ersten Besuch im Saudi House getroffen habe, meinte: „Ich arbeite hier auf dem Bau – nach Europa komme ich ja nicht rein.“  

Längst gibt es auch eine kleine Industrie um die Arbeiterinnen und Arbeiter herum – zum Beispiel in den Supermärkten.

Was klar ins Auge sticht: In Katar gibt es ein Drei-Klassen-System: Die unterste Klasse bilden die Arbeiter. Sie sind in den allermeisten Fällen alleine hier. Erst ab 10.000 Rial (das sind rund 2.500 Euro) Monatseinkommen kann man die Familie nachholen – so erklärt es uns unsere Gastgeberin.  

Sie gehört als in England und den USA studierte Juristin zur zweiten Schicht: die der gut qualifizierten Fachleute. Menschen aus der ganzen Welt kommen nach Doha, um hier gutes Geld zu verdienen – manche nur für ein paar Jahre, manche aber auch für länger. Auch hier gibt es große Unterschiede: Wer einen Abschluss einer westlichen Uni vorweisen kann, verdient am besten. Wer mit einem Diplom einer indischen Uni kommt, hat es da schon viel schwerer. 

Die Fachleute sind geachtet – aber auch nicht mehr. Es ist quasi unmöglich, die katarische Staatsbürgerschaft zu erlangen – und damit die Privilegien, die Kataris haben. Ich weiß immer noch zu wenig, deshalb kann ich auch gar nicht weit ausholen. Aber es ist zum Beispiel hier in Katar unmöglich, ein Business ohne einen Katari zu betreiben. Selbst Bilal aus Bangladesch, der sich vom Arbeiter zum Uber-Fahrer mit eigenem Auto hochgearbeitet hat, braucht am Ende einen Katari für eine Lizenz – und muss dementsprechend von seinem Verdienst abgeben. Gepaart mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft macht das die „Einheimischen“ zu sehr reichen Menschen.  

Seit ein paar Tagen weiß ich auch, wo sich die Superreichen unter ihnen gerne die Zeit vertreiben: Nach dem letzten Gebet des Tages beginnt sich die Al Hazm-Super-Luxus-Mall langsam zu füllen. Hier hat sich der Immobilienunternehmer Mohamed A.K. El Emadi einen Renaissance-Traum verwirklich: Nicht aus Beton mit drangepappten Fassaden wie beim Berliner Stadtschloss, sondern massiv aus echtem Carrara-Marmor – und mit in Italien und Spanien ausgebuddelten, bis zu 800 Jahre alten Olivenbäumen. 

Drin gibt´s erlesene Schweizer Schokolade von Läderach, Juweliere, Sportwagen von McLaren – und allerdings auch jede Menge Leerstand …

Das Gas macht Vieles möglich – ich bin da ganz vorsichtig: womöglich auch, eine Fußball-WM zu kaufen und Abgeordnete des Europa-Parlaments.

Die Berichterstattung zuhause verfolge ich natürlich. Da ist es doch eine Meldung wert, dass Emir Scheich Tamin Bin Hamad Al Thani tatsächlich jedes Jahr einen Anti-Korruptions-Preis vergibt. Ein riesiges Monument vor dem Geschäftsviertel West Bay zeugt davon. Eine der Preisträgerinnen dieses Jahr: Professor Lisa A. Kehl von der Universität Hawaii. Wofür sie ausgezeichnet wurde? Für ihre Arbeit gegen Korruption im Sport. Kein Witz. Bei der Preisverleihung selbstredend anwesend: Gianni Infantino. Habe keine Fragen mehr, Euer Ehren. 

Ich war wirklich vier Wochen enthaltsam (hoppla: gar nicht so schwer, Fußball ohne Alkohol). Aber darauf brauche ich erst einmal ein Bier! Gar nicht so einfach hier in Doha. Oder doch: Auf dem Fanfestival gibt´s jeden Abend 18.30 Uhr … Bier (?). Naja, es gibt Budweiser. 13 Euro für den 0,4-Liter-Becher.  

Am Anfang des Turniers war das öffentlich ausgeschenkte Bier hier im offiziell streng muslimischen Katar noch eine Sensation. Tausende standen da um 18.29 Uhr jeden Tag bereit, um die Bierstände zu stürmen. TV-Teams interviewten die Glücklichen, die als erste ihre Vierer-Packs ergattert haben. 

Seitdem die meisten Fans aus Europa und Südamerika abgereist sind, steht sich dort das Personal die Beine in den Bauch. Die Jungs und Mädels würden wahrscheinlich selbst zugreifen, aber ihre Religion macht da nicht mit. 

Auch Budweisers Hoffnungen lagen also auf Messi. Der hat ja dann auch brav geliefert. Am Finalabend meldete denn auch das Fanfestival „full – doors closed“, 40.000 feiern dort. 

Und wäre ich diese Zeilen schreibe, geht es gegenüber im Hilton wieder los. Die Argentinier sind zurück. Oh nein – um 4.30 Uhr holt uns Uber ab, um uns zum Flugzeug zu bringen. Der DJ hat derweil für die Muchachos erstmal nichts Lateinamerikanisches auf dem Plattenteller, sondern setzt zum Auftakt auf bewährte Kost: „We are the champions“. 

Alles verrückt!

Von unserem Appartement blicken wir über einen Highway hinweg direkt auf die Poolanlage eines der Hilton-Hotels von Doha. Hier ist ein Riesen-Bildschirm aufgebaut, auf dem alle Spiele gezeigt werden – und zwei bis dreimal pro Woche wummern bis tief in die Nacht hinein die Bässe bei Pool-Parties.

Es ist die Nacht vor dem Viertelfinale der Argentinier gegen die Niederlande. Das Management des Hotels ist nicht auf den Kopf gefallen: natürlich ist Latino-Party. Bei den Alkohol-Regeln blicke ich noch nicht ganz durch, vor der WM durften die großen Hotels jedenfalls Bier und Co. an internationale Gäste ausschenken. Ob das im Hilton jetzt immer noch so ist, kann ich aus der Ferne nicht erkennen. Was ich aber sehen (und hören!) kann: Die Stimmung ist ausgelassen.

Als der DJ gegen 2.30 Uhr endlich den Stecker zieht, hoffe ich auf eine Mütze Schlaf. Pech gehabt: Die Argentinier singen einfach weiter! Fast eine Stunde geht das noch so. Es sind ihre WM-Songs – in Dauerschleife. Einer davon ist „Argentina naci“, der ihren Gefühlszustand nach vielen verlorenen Finals und dem Tod von Maradona auf den Punkt bringt.

En Argentina nací
tierra de Diego y Lionel
de los pibes de Malvinas que jamás olvidaré.
No te lo puedo explicar
porque no vas a entender
las finales que perdimos, cuántos años las lloré.
Pero eso se terminó
porque en el Maracaná
la final con los brazucas la volvió a ganar papá…
Muchachos, ahora nos volvimos a ilusionar
quiero ganar la tercera, quiero ser campeón mundial
y al Diego, en el cielo lo podemos ver
con don Diego y con la Tota, alentándolo a Lionel.

Übersetzt: „In Argentinien bin ich geboren, dem Land von Diego und Lionel, von den Leuten auf den Malvinas, die ich niemals vergessen werde. Ich kann es nicht erklären, du wirst es nicht verstehen. Die Endspiele, die wir verloren haben, die vielen Jahre, in denen ich geweint habe. Aber das ist jetzt vorbei, weil Papa im Maracanã das Finale gegen die Brasilianer gewonnen hat. Jungs! Jetzt träumen wir wieder, ich will den dritten Stern, will Weltmeister werden. Und Diego können wir im Himmel sehen, wie er mit Don Diego und La Tota (Maradonas Vater und Mutter) Lionel anfeuert.“

Leider habe ich es nicht geschafft, ein Ticket für ein Argentinienspiel zu ergattern. Für Gänsehaut-Feeling reicht aber auch ein Besuch der Metro in Doha, wenn die Argentinier vorbeikommen. Wahlweise auch hier, wenn sich die Nationalmannschaft selbst versucht. Oder eben nachts um 3 Uhr, wenn ein paar Hundert Blau-Weiße auf der anderen Straßenseite nicht genug bekommen können.

Was ins Auge sticht: Die Argentinier haben eine riesige Fangemeinde weit über die Grenzen ihres Landes hinaus. Ihr Superstar Lionel Messi ist ein Grund dafür.

Aber nicht nur.

Ich habe hier Dr. Shiban Khan kennengelernt, sie ist eine Freundin unserer Gastgeberin. Dr. Khan hat in St. Gallen Wirtschaft studiert und ist zurzeit Assistent Professor an der University of Doha for Science & Technology.

Geboren ist sie in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Und sie konnte mir erklären, warum in ihrem Heimatland zurzeit viele blau-weiße Fahnen wehen. „Die erste Fußball-Weltmeisterschaft, die in Bangladesch im Massenfernsehen zu sehen war, war die in Mexiko 1986“, berichtet sie. Fußballfans kennen die Geschichte vom Spiel der Argentinier gegen England: Diego Maradona traf zuerst mit der „Hand Gottes“ und später mit dem Tor des Jahrhunderts nach seinem unvergleichlichen Solo. Für die Argentinier hatte der Sieg vier Jahre nach dem verlorenen Falklandkrieg eine besondere Bedeutung, Und die Menschen in Bangladesch waren Maradonas Magie und seinem Team verfallen.

Argentinien wurde Weltmeister – und die Basis war gelegt für eine Fanfreundschaft, die bis heute währt. Und bisweilen skurrile Blüten treibt: Weil es auf Facebook so viel Unterstützung aus Bangladesch für Argentiniens Fußballteam gibt, gründete der Argentinier Dan Lande die Facebook-Gruppe „fans argentinos de la seleccion der cricket de Bangladesh„, die innerhalb von kurzer Zeit über 175.000 Follower ergatterte. Im Fußball rangiert Bangladesch unter ferner liefen, im Cricket gehört das Nationalteam aber zu den Top Ten der Welt. „Wir haben hier in Argentinien wirklich keine Ahnung von Cricket“, gab Lande allerdings freimütig zu – mit der Folge, dass die Menschen aus Bangladesch jede Menge Cricket-Tutorials auf seiner Seite zur Verfügung stellen …

Shiban Khan wurde selbst mit Fußball groß: „Wenn die wichtigen Spiele in Europa stattfinden, ist es ja bei uns in Bangladesch mitten in der Nacht“, erzählt sie. „Aber mein Vater ist mit uns aufgeblieben und hat uns geduldig alles rund um Fußball erklärt.“ Das hatte Folgen: Shiban ist dem Fußball verfallen und doziert im Gespräch mit Freude über taktische Feinheiten – mir zum Beispiel vor dem Spiel zwischen Frankreich und England.

Argentinien-Fan ist sie indessen nicht geworden – sie hat einen Narren an Deutschland und Jürgen Klinsmann gefressen. Der Grund: „Meine erste WM war 1990.“ Mittlerweile hat sie einen Deutschen geheiratet und nach dem Studium in der Schweiz mehrere Jahre zwischen Frankfurt und Wiesbaden gelebt. Sie hat dort ihre Kinder bekommen und viel Lob übrig über das deutsche Betreuungs- und Bildungssystem – von den Tagesmüttern bis zu den kostenfreien Universitäten. Hier in Doha gehen alle drei Kinder in die deutsche Schule.

„1990!“ – Dieser Mann, den wir im Fanshop auf dem Fanfestival getroffen haben, teilt tatsächlich Dr. Khans Leidenschaft …

Bei der WM hat diese Liebe allerdings Risse bekommen. Nach einem kritischen Facebook-Beitrag zur Hand-vor-den-Mund-Geste des Deutschen Teams beim Japan-Spiel bat sie die Dhaka Tribune, ihren Standpunkt zu erläutern. Das hat sie in einem Artikel getan und dargelegt, warum sie die Geste heuchlerisch fand. Spannende Lektüre!

Das deutsche Boot ist hier in Doha zwar nicht untergegangen, aber es musste ziemlich früh die Segel streichen. Jeden Tag zieht eine Dhau-Parade mit den Teams durch die Bucht, die noch im Wettbewerb sind.

Nettes Gimmick! Ansonsten heißt es hier in Doha aber: Klotzen statt Kleckern!

Der zentrale der fünf Bildschirme auf dem Fanfestival hat gigantische Ausmaße. Mit ihm die Subwoofer: Wenn mal eben Calvin Harris zwischen zwei Viertelfinals gratis auftritt, bringen die Bässe Fish & Chips im Magen kräftig in Unordnung.

An vielen Orten stehen riesige Screens für Public Viewing.

Ein Feuerwerk gibt es nicht bei Eröffnung und Abschluss, sondern einfach jeden Tag – inklusive einer Show mit Hunderten Licht-Drohnen, die wahlweise einen Fußballer oder „Welcome to Qatar“ an den Himmel zaubern.

Irgendwie sind alle ein wenig verrückt hier. Im Speziellen derzeit die Argentinier und natürlich die Marokkaner, aber eben auch die Kataris ganz allgemein.

Bescheidenheit ist nicht die Sache der Herrscher über diesen Wüstenstaat, der quasi über Nacht zu unermesslichem Reichtum gekommen ist.

Ganz Doha kommt mir bisweilen vor wie ein Disneyland, bei dessen Bau der Chef dem Controlling freigegeben hat.

Ich brauche nur nachts aus dem Fenster zu schauen:

Daheim versuchen wir Energie zu sparen – im Land des Überflusses hat jedes Hochhaus-Stockwerk sein Neon-Lichterband.

In Laufentfernung liegt das italienische Viertel – inklusive florentinischer Porto-Vecchio-Kopie. Jeden Abend gibt es hier eine venezianische Bootsparade zu Verdi und Techno.

Für mich gruseliger Kitsch, aber die Leute lieben es. Und wenn Geld keine Rolle spielt, …

… dann verursacht selbst die auf 70-Millionen Euro geschätzte Jacht Attila des argentinischen Millionärs Maurizio Filiberti im Hafen keinen Auflauf.

Hinter dem Haus, in dem unsere Gastgeberin im 16. Stock ihr Appartement hat, hat am Jachtclub ein Floß aus Dubai mit einem Lamborghini-Shop festgemacht.

Für unsereins nur noch skurril: Die Ausgeh-Meile Lusail Boulevard ist klimatisiert. Aus den schwarzen Schächten strömt einem beim Vorbeiflanieren eiskalte Luft entgegen. Aber bei Sommertemperaturen von bis zu 50 Grad und gleichzeitig Energie im Überfluss …

Ich könnte jetzt noch eine Weile weitermachen mit Luxus und Verschwendung. Und müsste mir dann wahrscheinlich Dinge anhören wie: „Ihr lebt doch auch in viel zu großen Häusern und heizt die im Winter auf 23 Grad, wo 19 Grad reichen würden.“

Also belasse ich´s dabei.

Herausgekommen bei all dem Gigantismus ist ja zum Teil auch wirklich spannende Architektur wie zum Beispiel der Bau des Nationalmuseums, das Architekt Jean Nouvel einer Sandrose – eine Sandkristallformation, die auch in Katar vorkommt – nachempfunden hat.

Hier haben wir im Museumscafé einen Mann getroffen, dessen Stimme mit dem letzten großen Erfolg unserer Nationalmannschaft für viele untrennbar verbunden ist. „Mach ihn! Er macht ihn!“ In einer Ecke des Cafés saß tatsächlich ARD-Reporter Tom Bartels und bastelte an einem Text. Ein sympathischer Mensch, der uns gleichzeitig Respekt abnötigte: Er kommentierte nämlich von hier aus den Skisprung-Weltcup im kalten Titisee und den heißen Kampf zwischen Argentinien und den Niederlanden im Viertelfinale der WM.

Zufallstreffen: Tom Bartels mit unserer Gastgeberin Rukhsana (2. v.l.), ihren Kindern Hana und Yamaan, sowie Andrea und mir.

So habe ich auch meinen Übergang 🙂

Nach dem Sieg der Albiceleste gegen Oranje poppt in unserer privaten Argentinien-Whatsapp-Gruppe eine Nachricht von Vicky auf. Sie war kurz vor Corona zwei Monate lang als Austauschschülerin bei uns zu Gast – meine Tochter Katharina reist Anfang Januar 2023 endlich zum Gegenbesuch zu ihr nach Buenos Aires.

Mit der schnöden Nachricht „Mein Viertel“ und einem Ach-Du-Lieber-Gott-Smilie schickt sie ein Video von einer Hundertschaft Halbnackter, die vor ihrem Haus durch die Straßen springen – und natürlich singen.

Kurz darauf blinkt es wieder auf meinem Bildschirm. „Sie sind verrückt“, schreibt Vicky. „Und es war erst das Viertelfinale.“

Die einzig wahre Analyse: Ich bin schuld

Ich bin nach Russland zum zweiten Mal bei einer Fußball-Weltmeisterschaft – und zum zweiten Mal spielt die deutsche Nationalmannschaft die schlechteste WM aller Zeiten. Wenn es da keinen Zusammenhang gibt … Bevor der DFB sich mit einer ernsthaften Analyse abmüht: Ich stelle mich hiermit als Sündenbock zur Verfügung.

Kleiner Fortschritt: Immerhin habe ich diesmal Spiele von Neuer und Co. gesehen. Für „die Mannschaft“ hatte ich in Russland bloß Optionstickets. Wenn die Jungs damals die Vorrunde überstanden hätten, dann wäre ich bei Achtel- und Viertelfinale dabei gewesen. Ja wenn …

Aber obwohl ich in Russland kein einziges Fußballspiel gesehen habe, war die Reise nach Moskau und Kasan unvergesslich. Das wird bei der aktuellen Reise nicht anders sein. Auch wenn erneut 16 Teams – unter anderem ein paar Känguruhs – an uns vorbei ins Achtelfinale gehoppelt sind.

Ich hatte drei Stunden vor Spielbeginn noch ein Ticket für das denkwürdige 1:0 der „Aussies“ gegen Dänemark bekommen. „They have the better players, but we played with heart“, sprach dieser Herr dem Reporter nach dem Schlusspfiff euphorisiert ins Mikrofon. Da ist was Wahres dran: Die Dänen wirkten ähnlich unmotiviert wie die deutsche Mannschaft nach der 1:0-Führung im Spiel gegen Costa Rica. Da hatte ich nach den starken Anfangsminuten richtig Hoffnung geschöpft, dass unser Team doch noch in die WM hineinfindet. Dann rumpelten sich die Jungs auf rätselhafte Weise in ein 1:2 und am Ende trotz Leistungssteigerung aus dem Turnier.

… vor dem nächsten Debakel.

So war es aus deutscher Sicht wieder eine WM der Enttäuschungen – und der Missverständnisse. Auch im Kleinen übrigens: Der Fanclub Nationalmannschaft skandierte tapfer sein „Steht auf, wenn Ihr für Deutschland seid“. Es waren zwar auch gegen Costa Rica wieder Tausende Menschen in unseren Trikots im Stadion. Bloß: Der Inder hier versteht halt in der Regel kein Deutsch. Und so blieben all die Weiß-Schwarz-Gewandeten sitzen und schauten bloß ratlos, als wir uns von unseren Sitzen erhoben.

Mein Eindruck: Die Mannschaften – nicht bloß die deutsche – vergeben hier so richtig eine Chance. Wenn Joshua Kimmich nur einmal bei einer Pressekonferenz gesagt hätte „Vielen Dank an all die Menschen aus Nepal, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und Indien, die unsere Trikots tragen“, hätte er auf einen Schlag Hunderttausende neue Fans gefunden. Von außen sieht es so aus, dass die WM in Katar eine WM der Araber ist – und natürlich stimmt das auch. Aber in den Stadion sind die Menschen aus Südasien klar in der Überzahl – es ist auch ihre WM.

Sie stehen hier in Katar für den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung. Alleine die Inder stellen rund 700.000 der knapp 3 Millionen Einwohner – Kataris gibt es bloß 300.000. Ganz ähnlich ist die Situation zum Beispiel in Dubai: 40 Prozent der Bevölkerung kommt aus Indien, die Emiratis haben im eigenen Land gerade einmal einen Anteil von knapp 12 Prozent.

Irgendwie verrückt: In Indien ist Cricket Nationalsport, Fußball kennen die Inder – ich lasse jetzt mal die anderen Länder der Einfachheit halber weg – nur aus dem Fernsehen. Die Nationalmannschaft steht im FIFA-Ranking auf Rang 106. Insider kennen die Story um die einzige Qualifikation des indischen Teams für eine WM-Endrunde: 1950 war Indien eigentlich dabei, sagte aber die Teilnahme ab. Der Grund: Die FIFA hatte kurz vor dem Turnier die Pflicht zum Tragen von Fußballschuhen eingeführt, in Indien spielte man aber noch barfuß.

Die Inder hier in Katar sind dennoch geradezu verrückt nach der WM. Nibil (rechts) und Rasniya (daneben) sind mit ihrer sechs Monate alten Tochter Eva alle zwei Tage bei einem Spiel oder beim Public Viewing. Ich habe die drei und ihre Freundin Nizy gleich bei meinem ersten Besuch auf dem Fanfestival kennengelernt – wir halten Kontakt und treffen uns immer wieder.

Besonders stolz ist Nibil darauf, dass er Karten für das Finale ergattert hat – für mich angesichts schon aufgrund der regulären Kartenpreise ab rund 550 Euro keine Option. Nibil hat eine Beratungsfirma, die Unternehmen dabei begleitet, ihr Business in Katar zu starten. Aber auch die Inder, die hier in Katar beispielsweise auf dem Bau arbeiten, sind am Start: Möglich macht das eine 4. Preiskategorie für Einwohner von Katar – Vorrundenspiele kosteten für sie zum Beispiel nur 10 Euro. Im Bus zum Spiel der Australier gegen Dänemark bin ich kurz mit Deepak aus dem südindischen Bundesstaat Kerala ins Gespräch gekommen. „Mein Arbeitgeber gibt mir frei, wenn ich ein Ticket für ein Spiel habe“, berichtet er. Natürlich frage ich ihn irgendwann auch nach seinen Arbeitsbedingungen. „Vor ungefähr drei Jahren hat sich für uns einiges gebessert, wir haben jetzt viele neue Freiheiten“, sagt Deepak – und schränkt aber auch gleich ein: „Wir hoffen jetzt, dass der Emir die Verbesserungen nicht nach der WM wieder zurücknimmt.“

Es ist nicht so, dass die meisten meiner neuen indischen Freunde den Kicker lesen oder sonst irgendwie Fans vom Fach wären. „Offside – why offside?“ Ich habe hier schon mehrfach den alten Klassiker Abseitsregel erklärt. Und ich muss gelegentlich feststellen, dass die Halbzeitshow und das Feuerwerk so manchen Zuschauer eher vom Handy wegreißen als wirklich wichtige Fragen wie „falsche oder echte Neun?“ oder „Vierer- oder Dreierkette?“. Ein gefundenes Fressen für die Fußballpuristen bei uns und ihre These „Dort gibt es keine Fußballtradition, deshalb gehört die WM da nicht hin“.

Ich bin da aber anderer Meinung: Fußball ist für alle da, auch die WM. Gerade die WM hier hat unglaubliches Potenzial, noch mehr Menschen für dieses Spiel zu begeistern. Wie sagt doch meine Gastgeberin hier in Doha – selbst in England aufgewachsene und in den USA studierte Inderin: „Wir `Braunen´ sind viel mehr als Ihr weißen Europäer.“